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Von Nonnen, ayurvedischen Reispfannen, einer Schweige-minute – und von Sigmar Gabriel

Fundbüro

Am Bratwurststand am Nachmittag. Man hat’s gerade so geschafft, zweimal in die „Berliner Rote“ zu beißen, als der Schock einsetzt: Oh Gott. OH. GOTT. Der Geldbeutel ist weg. Verloren? Geklaut? Weg absuchen. Panik zurückhalten. „War alles drin?“ – „EC-Karte, Kreditkarte, Führerschein, alles.“ Panik verbreiten. Fundbüro anrufen. „War alles drin?“ Es vergehen Stunden ohne Geld und Gewissheit. Dann, auf dem Heimweg, nach einem weiteren Anruf beim Fundbüro; nach einem Besuch beim Fundbüro ploppt eine Nachricht auf dem Handy auf: „Hallo, ich habe deinen Geldbeutel gefunden.“ Die Übergabe erfolgt wenig später – mit allem drin. Christen gilt es zu trauen.

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Eine Nonne läuft an drei Mädels mit „Free hugs“-Schildern vorbei. „Heißt ‚Hug‘ Umarmung auf Deutsch?“, fragt sie. Die Mädchen bejahen. Dann wird gekuschelt.

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Wahlkampf

„Was heißt denn ‚ayurvedische Reispfanne?‘ “, fragt eine Frau am Veganz-Lunch-Stand im Sommergarten. „Ayurveda ist eine ganzheitliche Wissenschaft. Das ist supergesund“, erklärt die Verkäuferin. „Aber das habe ich doch auch in meiner Vollwertküche zu Hause.“ Sie geht weiter.

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„Keine Panzer für Erdoğan“ steht auf dem Schild, das ein Besucher Sigmar Gabriel (SPD) im CityCube der Messe entgegenhält. Der Bundesaußenminister hebt dort am Donnerstagvormittag gerade an, über das Thema „Mehr Verantwortung für den Frieden – deutsche Außenpolitik in Zeiten des Umbruchs“ zu reden. Gabriel liest den Spruch vor und entgegnet: „Dis finde ich auch!“ Und weil die Moderatorin zuvor verraten hat, später würden Aktivisten von Campact dem Minister noch Tausende Unterschriften gegen den Bau einer Panzerfabrik in der Türkei durch die Firma Rheinmetall übergeben, setzt Gabriel nach: „Aber warum haben Sie die Unterschriften nicht gestern Merkel bei Oba­ma übergeben?“ Es folgt eine Rechtfertigung, warum er solche Waffengeschäfte nicht im Bundessicherheitsrat verhindern könne – und schon ist man mitten im Wahlkampf.

Mittelmeer

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Punkt 12 Uhr ertönt ein Gong. Eine Stimme erklärt über die Lautsprecher der Messehallen, man halte jetzt eine Schweigeminute für die Tausenden Toten ab, die jährlich auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrinken. Alle Menschen in Halle 3.2 erstarren zu Salzsäulen – bis auf eine in einen indischen Sari gekleidete Frau, die die Ansage offenkundig nicht verstanden hat. Auf eine geflüsterte Erklärung in Englisch bleibt auch sie stehen. Als die Minute vorbei ist, traut sie sich zu fragen: „Warum sterben diese Menschen alle?“

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Speeddating

Ein Speed-Dating der besonderen Art bietet der Stand des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZE): In einer spacig designten runden Kabine kann man ein „interaktives Gespräch“ mit drei Menschen aus Afrika führen. So erklärt Adebe Dereje, ein 26-jähriger Bauer aus Äthiopien, seine Schwierigkeiten, genug Geld mit der Landwirtschaft zu verdienen. Auf der Tischfläche zwischen den „Gesprächspartnern“ erscheinen zwei Teller: einer mit einem „typisch deutschen“ Mittagessen (Haxe mit Kartoffelbrei) und einer mit „typisch äthiopischem“ Essen (Hirsebrei) – und schon die Kalorienangaben (1.200 versus 400) lassen ahnen, in welch unterschiedlichen Welten die „Gesprächspartner“ leben. Vollends deutlich wird dies, als Dereje am Ende sein „Gegenüber“ um Rat fragt: Soll er a) die Landwirtschaft trotzdem weiterbetreiben oder b) in die Stadt gehen wie so viele Landsleute oder c) auf dem Land bleiben aber sich beruflich umorientieren? Eine Option lässt das BMZE (wohl bewusst) aus: Man kann Dereje nicht raten, sein Glück in Europa zu versuchen.

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Gaben

Mantraartig immer wieder dieselben Worte: „’schuldigung, zehn Cent. Alles gut, alles gut.’tschuldigung, zehn Cent. Alles gut, alles gut.“ Ein Mann um die 40 sitzt an die Wand gelehnt, in der Übergangszone zwischen Messegelände und S-Bahn-Station. In der Hand hält er einen Kaffeebecher, wie ihn viele auf dem Kirchentag haben. Ihrer ist voll, seiner leer. Immer wieder lässt er die wenigen Münzen in seiner Manteltasche verschwinden. Dreiundzwanzig Menschen in zwanzig Minuten bleiben stehen. Ist das christlich? Gebt, so wird euch gegeben, so steht es in der Bibel.

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