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Unglückliche Liebe, schöne Handtücher

Choreografie Plötzlich vergessen, was man eigentlich vorhatte, diesen Zustand kennt man. Marlene Monteiro Freitas, Meisterin des Grotesken, baute daraus zusammen mit Andreas Merk im HAU ihr Tanzstück „Jaguar“

Stilistisch ist klar, dass DADA für das Unsinn-Team ein direkter Anknüpfungspunkt ist

von Astrid Kaminski

Titel zu Performances sind oft wie Überschriften zu abstrakten Suchbildern. Wer etwas findet, was sich zum Titel in Verbindung setzen lässt, gewinnt (den Sinn). Die in Lissabon arbeitende Choreografin Marlene Monteiro Freitas, die nun mit „Jaguar“ zum zweiten Mal im HAU 2 war, schraubt das Spiel noch eine Umdrehung weiter. Es ist ziemlich schnell klar, dass in ihrem fast zweistündigen Handtuchreigen kein Raubtier vorkommen wird. Und auch keine Großmetapher à la „Raubtier­kapitalismus“.

Freitas’ Suchbild hat etwas von einer Zenmeditation: Der Jaguar ist gar nicht da, er ist Jagender und Gejagter in einem. Er prescht mit uns durch ein grotesk vibrierende Situationstableau, das die Tänzerin und Choreografin zusammen mit ihrem kongenialen Kollegen Andreas Merk entwirft. In dessen Zentrum steht ein etwas überlebensgroßes Pferd. Das wird irgendwann einmal von links nach rechts bewegt und gestriegelt und später in drei Teile zerlegt. Dreimal wird der Rumpf wie ein Schaschlikspieß über dem Feuer gedreht!

Oder versteckt sich da doch ein gewollter Gegensatz? Jagdtier, Fluchttier? Eine Zeit der Jäger und der Gejagten? Dieser Verdacht ist vielleicht gar nicht so abwegig. Denn das Pferd ist blau, sicherheitshalber wird die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ im sonst sehr verschwiegenen Programmheft genannt, im Zentrum der Musikbeschallung steht ein furchtbar verdröhnter „Sacre du Printemps“, begleitet von Körperposen-Zitaten im mechanisch-animalischen Stil von Nijinsky und der Ballets Russes. Oder auch von Mary Wigmans „Hexentanz“.

Stilistisch ist klar, dass DADA für das dauergrimassierende Unsinn-Team Freitas/Merk ein direkter Anknüpfungspunkt ist. Referenzen also an die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, an einen mentalpsychischen Ausstieg der Kunst aus ihrer bildungsbürgerlichen Repräsentanzrolle. Unterstrichen wird diese Tendenz noch durch die Verwendung von kompositorischen Miniaturen des Art-Brut-Künstlers Adolf Wölfli, der in einem noch subversiveren, weil nicht dialektischen Sinn für den Umstieg ins Irrationale stehen könnte.

Dennoch ist „Jaguar“ kein explizit politisches Mahnstück, sondern auch ein Luststück, das einen Herbert Fritsch, pardon, in den Schatten stellt – Lust an der Verzerrung, der Bedeutungsentgleitung, am Absurden, Lust an Stummfilmkomik, am Clownsmund, Karneval (der Karneval von Freitas’ kapverdischer Heimat taucht bei ihr immer wieder als Referenz auf), am Nichtfunktionieren, am Tanzen. Lust auch daran, sich auszuschwitzen, Handtücher zu beschmutzen, in ein Wellness-Hotel reinzulaufen, weiße Tenniskleider anzuziehen, Bademantel, Frottee-Schweißband und Taucherbrille, die Musik aufzudrehen, um dann beim Abtrocknen in der Schambeuge plötzlich zu vergessen, was man eigentlich vorhatte, und alsbald ganz woanders zu landen: in den eigenen Neurosen und Obsessionen, in denen der anderen, in denen der Kunst. Mit dieser Lust halten Freitas und Merk die etwas langen 110 Minuten komplett wie mal fanatische, mal liebenswürdige mechanische Puppen durch – ein biochemischer Aufziehmechanismus, der staunen lässt!

Und dann wäre da noch die Liebe. Wie immer eben. Und leider unglücklich, zumindest scheint das der gemeinsame Nenner eines Großteils der quer durch die Musikgeschichte zusammengestückelten Soundtracks zu sein: Strawinskys „Sacre“, Schönbergs „Verklärte Nacht“, David Bowies „Love Is Lost“ oder Monteverdis Matrigal „Lamento Della Nimfa“, in dem Amor einer Nymphe den Geliebten klaut.

Allerdings sind die zwei Protagonist*innen unempfänglich für das Liebesunglück aus den Boxen (vielleicht haben sie es schon hinter sich?). Stoisch gehen sie ihren Handtuchfetischtänzen nach oder lassen sich auch mal auf einen rasenden Tango-Walz oder – ihre Gliederpuppenexistenz für einen kurzen Moment fast vergessend – einen swingenden Salsa ein. Innig wird es, als sie unter ihren Handtüchern zu einem siamesischen Zwilling zusammenwachsen, der zuerst an eine schutzsuchende Barlach-Figur erinnert, dann Klimts „Der Kuss“ variiert: mit größtmöglicher Speichelproduktion und kleinstmöglicher Speichelflusskontrolle. Trostposen ohne Trost, ein bildungsbürgerlicher Zitatereigen ohne Bedeutung, Bewegungsticks ohne Erlösung – das ist viel Hinwendung zur Abwendung, aber auch ein befreiendes Fest.

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