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Jedes Mal durch den Flughafen-Scanner

CANNES CANNES 2 Die Stadt scheint ausnahmslos aus bis zum letzten Platz besetzten Straßencafés zu bestehen. Der Eröffnungsfilm von Arnaud Desplechin glänzt vor allem mit Stars

Wie am falschen Ort fühlt man sich am Vorabend im Festivalpalast. Draußen bilden die Vertreter von Filmbranche und Presse noch eine lange Schlange, um sich im Keller ihre Akkreditierung abzuholen. Dazu müssen sie dieses Jahr durch einen Metalldetektor wie am Flughafen. Das führt ganz schnell zu einem Menschenstau. In den oberen Etagen dagegen herrscht vorwiegend gähnende Leere. Nur ganz vereinzelt schleichen Leute durch die Gänge, sofern die nicht noch mit Bändern abgesperrt sind.

Im Pressezentrum findet man dann auch eine sehr übersichtliche Zahl von Besuchern vor, die ein bisschen die Aussicht auf Meer und Palmen genießen und dazu Sponsorenkaffee trinken. Nebenbei kann man sich kurz mit den technischen Gegebenheiten vertraut machen. Muss ja alles funktionieren. Funktioniert auch. Irgendwann.

Draußen wuselt der Ort schon vernehmlich, die Stadt scheint überhaupt ausnahmslos aus Straßencafés zu bestehen, die sich in strategischer Verknappung ihrer Sitzgelegenheiten üben. Oder eben einfach voll sind. Was angesichts der milden Wärme und des vorbildlich blauen Himmels nicht groß überrascht. Die Verunsicherung, die ansonsten im Land herrscht, wird hier, für den Moment zumindest, elegant abgestreift und durch Haute Couture ersetzt. Oder etwas Ähnliches.

An den Kiosken ist der neue Präsident Emmanuel Macron großflächig als Coverboy ausgestellt – „Er vollbringt sogar Wunder“, verspricht die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, „Das Schwerste kommt noch“, unkt die patriotische Wochenzeitung Marianne –, doch ansonsten ist ringsum Festivalbetriebsamkeit zu beobachten. Überall Menschen mit Plastikkärtchen um den Hals, die Rollkoffer in ihre Quartiere schieben. Von den meisten Plakaten in den Straßen lächeln Menschen, die auch etwas mit dem Festival zu tun haben.

Am nächsten Morgen bestätigt sich der Verdacht, dass sich die Sicherheitspolitik gegenüber dem Vorjahr noch einmal verschärft hat: Die Metalldetektoren sind jetzt Standard. Auch auf dem Weg ins Kino muss man durch ein solches Metallportal. Bloß die Taschen werden noch nicht durchleuchtet, sondern lediglich in Augenschein genommen.

Der Eröffnungsfilm „Les Fantômes d’Ismaël“ von Ar­naud Desplechin beginnt denn auch mit leichter Verspätung. Die Geschichte dreht sich um den Regisseur Ismaël, der an einem Film über seinen verschollenen Bruder arbeitet. Währenddessen wird er ohne Vorwarnung von seiner ebenfalls verschwundenen und von ihm selbst vor einigen Jahren offiziell für tot erklärten Ehefrau Carlotta konfrontiert. Plötzlich ist sie aus dem Nichts wieder aufgetaucht. Sehr zum Missfallen von Ismaëls Freundin Sylvia.

Lauter Stars: Mathieu Amalric gibt die aufbrausend getriebene Titelfigur, deren Albträume ihn fast – oder so richtig? – in den Wahnsinn treiben. Er schreit dann auch viel. Die Rolle seiner Freundin Sylvia übernimmt Charlotte Gainsbourg mit ­herber Verletzlichkeit, und die außerweltlich entrückte Carlotta bekommt mit Marion Cotillard ein perfekt gespenstisches Gesicht.

Die Phantome, von denen Ismaël gejagt wird, sind auch die des Filmemachens selbst. Seine Erinnerungen an seine Kindheit ziehen während einer Zugfahrt in seine Geburtsstadt Roubaix als gut erkennbarer Film im Film an ihm vorüber, machen das Abteilfenster zur Leinwand, die aus dem restlichen Bild herausfällt. So wie Ismaël ein wenig aus dem Leben gefallen ist. Zugleich scheint sein Leben ein einziges Fallen.

Auf den Boden der Festivalwirklichkeit kommen sie kurz darauf aber alle zurück, wenn sie als „echte“ Stars am Pressezentrum vorbei zur Konferenz schreiten. Marion Cotillard stilvoll im spukhaft weißen Kleid.

Tim Caspar Boehme

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