Porträt der Kieler Autorin Juliana Kálnay: Virtuosin der poetischen Schwebe

Die Kieler Autorin Juliana Kálnay unterminiert in ihrem Debütroman „Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ ständig die Realität und konstruiert eine neue – surreal logische – Welt. Im richtigen Leben agiert sie weit bodenständiger

Verwebt bizarre Charaktere zu Prosaminiaturen: Juliana Kálnay Foto: Thomas Eisenkrätzer

Juliana Kálnay lacht zustimmend. Ja, dass ihr Buch ungewöhnlich sei, habe sie oft gehört. „Und es hieß auch immer, dass es ein bisschen schwer zu vermitteln sei. Jetzt sind wir ganz positiv überrascht“, fügt sie hinzu. Im Café dampft der heiße Tee aus der Tasse vor ihr. Genau das Richtige, denn der Wind weht an diesem Tag kalt durch die Kieler Straßen.

„Wir“, damit meint die 28jährige sich und den Wagenbach Verlag, bei dem kürzlich ihr Debüt “Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens“ erschien. Man hatte dort nicht erwartet, dass die ersten Rezensionen so schnell kommen würden, aber in einigen wichtigen Feuilletons wurde die Debütantin bereits sehr gelobt. Vielleicht gerade weil ihre Erzählweise in der deutschsprachigen Literatur so selten ist.

Bei Kálnay entzieht nämlich das Phantastische dem Realen ständig den Boden. Auf diese Weise erzählt sie von einem Haus und seinen BewohnerInnen. „Das Haus atmet“ heißt es an einer Stelle, gleich einem lebendigen Organismus steht es in stetigem Austausch mit den Menschen, die es beherbergt. Die Autorin entwirft ein poetisches Geflecht einer Vielzahl von Prosaminiaturen, in denen die LeserInnen – geführt von mehreren Erzählstimmen – verschiedensten Figuren begegnen.

Rita etwa, die das Haus am längsten kennt, der es „in den Knochen steckt“; Tom, der samt Gummibaum im Aufzug lebt; Maia, ein maulwurfähnliches Kind, das sich in Erdlöchern versteckt und eines Tages verschwindet; Don, der zu einem Baum wird, weiter geliebt von seiner Frau Lina. Es gibt die „chronisch Schlaflosen“, die ihre Augen und Ohren überall haben; und die Kinder, die jeden Samstag mit dem Feuer experimentieren und sich im Zufügen von Brandmalen überbieten. Und noch viele mehr. Das ist so rätselhaft, wie es klingt – und es wird auch keine Auflösungen geben.

Juliana Kálnay: Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens. Wagenbach , Berlin 2017. 190 Seiten, 20 Euro.

Lesung am 24.5., 19.30 Uhr, Hamburg, Literaturhaus.

„Was dieses Eindringen des Phantastischen in die Realität betrifft, so bin ich unheimlich stark von Julio Cortázar beeinflusst. Und dass ich ihn gelesen habe, hängt sicher auch damit zusammen, dass meine Eltern aus Argentinien kommen“, erzählt Juliana Kálnay. Cortázar war ein argentinischer Autor und ein Meister darin, das Surreale wie selbstverständlich der Realität zu unterlegen und so deren Grenzen aufzusprengen.

Aber Kálnay, das klingt nicht nach einem argentinischen Namen. Nein, das sei ungarisch, ihr Großvater väterlicherseits sei Ungar gewesen und nach Argentinien eingewandert, erläutert die Autorin. Ihre Eltern, beide dort geboren, seien dann aus beruflichen Gründen 1987 nach Deutschland gegangen, sie sind ArchitektInnen. Als Juliana Kalnay elf war, ist die Familie dann nach Spanien gezogen, wo ihr jüngerer Bruder und ihre Eltern auch heute leben. Die Autorin spricht – und schreibt – beide Sprachen perfekt.

Mit der Frage, ob das eine Bereicherung für ihr literarisches Schreiben sei, kann Juliana Kálnay nicht so viel anfangen. Sie habe ja keinen Vergleich, wie es mit nur einer Sprache wäre, sagt sie dann etwas zögerlich. Und dass sie „eher mal frustriert“ sei, „wenn ich auf Spanisch das perfekte Wort habe, es aber im Deutschen keine Entsprechung dafür gibt“.

Im sogenannten echten Leben geht sie lieber planvoll und eher vorsichtig vor

Nach Deutschland zurückgekehrt ist sie für das Studium. Und das hat sie sich sehr gezielt ausgewählt. Sie sei alle Studiengänge auf einer Liste durchgegangen und habe dann Hildesheim entdeckt. „Kreatives Schreiben und Journalismus, das hörte sich super an“, erzählt sie. „Damit fühlte es sich echter an, dass sich die Schriftstellerei als realistische Option auftut.“

Ein bisschen scheint es bei diesen Worten, als traue sie ihrer Entscheidung, Schriftstellerin zu sein, noch immer nicht ganz. Oft blickt sie beim Sprechen auf ihre Hände, die sich schnell und gestenreich knapp über der Tischoberfläche bewegen. Eine Routine gibt es (noch) nicht. Aber es gibt das Buch, es gibt die Lesungen. Und im Sommer das Stipendium am Literarischen Colloquium Berlin.

Dennoch ist es Juliana Kálnay wichtig, sich auch in Zukunft mit einem anderen Job finanziell abzusichern, um „mich künstlerisch frei zu fühlen“. Auch nach dem Studienabschluss 2013 hatte sie sich gleich ein Volontariat im Literaturhaus Schleswig-Holstein besorgt, das hat sie nach Kiel geführt. Demnächst läuft ihr Vertrag dort aus. Das Buch hat sie neben dieser Arbeit fertig geschrieben. Ein Grund, warum sie für das eher schmale Werk recht lange gebraucht hat.

In ihrer Literatur – und das ist ganz wunderbar – öffnet sie Assoziationsräume, deutet Motive wie Einsamkeit, Außenseitertum, Sehnsucht an, aber sie schafft keine Eindeutigkeiten, sondern belässt die Figuren und ihre nur lose verknüpften Geschichten in der poetischen Schwebe. Das sei ein großer Reiz für sie, dieses „Aushalten der Ungewissheit, diese Offenheit, das Dazwischen“.

Auch die Momente des Unheimlichen, wie sie in ihrem Buch zum Beispiel das rätselhafte und nicht näher zu definierende Wesen Kasi auslöst, habe sie schon als Kind gemocht: „Ich habe sehr gerne Schauergeschichten gelesen und dann diesen Moment, in dem Angst, aber eben auch eine Lust steckt, genossen“, erzählt sie. Zudem bedeute das Sich-Einlassen auf das Phantastische auch, dass „die Dinge nur in der von mir selbst gebauten Logik stimmig sein müssen, das ist die größtmögliche Freiheit“. Die Schwebe, die Freiheit, beides will sie sich in ihrer Kunst, dem Schreiben, unbedingt bewahren – und geht daher im sogenannten echten Leben lieber planvoll und eher vorsichtig vor.

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