Vereinigungsgedanken (Teil 2)
: „Richtig integriert worden bin ich über die Türken“

Claudia Dantschke, 1963 in Leipzig geboren, hat sich über die Grenzen der Republik hinaus einen Namen als Kennerin islamischer Organisationen gemacht

Vor 15 Jahren wurde Deutschland wiedervereinigt – so der offizielle Sprachterminus. Viele jubelten, einige trauerten und manche ängstigte, was aus diesem Land werden könnte. Die taz lässt bis zum 3. Oktober Menschen zu Wort kommen, die damals in Berlin waren und die Atmosphäre in der Stadt beschreiben.

„Am 3. Oktober 1990 war ich bei der ‚Deutschland, halt’s Maul‘-Demo auf dem Alex. Ich war damals noch indoktriniert und skeptisch gegenüber dem neuen System – die 26 Jahre DDR-Propaganda, die ich erlebt hatte, wirkten noch. Außerdem hatte ich durch die Einheit meinen Arbeitsplatz in der arabischen Redaktion der Nachrichtenagentur ADN verloren. Darum hatte ich Angst. Über die Medien und die ganze Propaganda der DDR hatten wir ja gelernt: Wenn du arbeitslos wirst, wirst du ganz schnell obdachlos und so.

Ich hab dann aber direkt am nächsten Tag mit einer Umschulung angefangen zum staatlich anerkannten Marketingfachmann. Das war ein echter Crash-Kurs in Sachen kapitalistisches System, Wirtschaft und Werbung und Medien. Aber ich habe dabei auch gleich die guten ‚Wessis‘ kennen gelernt – nicht den ‚Besserwessi‘ oder den ‚Schlimmwessi‘, sondern junge Leute, die sich engagiert haben, die an echter Zusammenarbeit interessiert waren. Und eine positive Erfahrung war auch, dass ich die soziale Decke der Bundesrepublik kennen gelernt habe. Da waren meine Ängste schnell weg.

Richtig integriert worden bin ich aber über die Türken. Da habe ich diese Gemeinschaft, diese vermeintliche Gemeinschaft der DDR-Gesellschaft, wieder gefunden. Da habe ich mich geborgen und aufgehoben gefühlt. Obwohl ich auch schlechte Erfahrungen gemacht habe, weil ich arbeitsmäßig am Anfang nur ausgebeutet worden bin.

Nach der Umschulung habe ich bei einem türkischen TV-Sender gearbeitet. Einmal habe ich zu meinem Chef gesagt, ich hätte über meine Überstunden Buch geführt. Da gab es schallendes Gelächter, und noch Jahre danach war das ein Running Gag: „Claudia schreibt sich Überstunden auf.“ Das fanden die einfach zum Totlachen deutsch. Dabei sind sich die Türken und die Ossis so was von ähnlich – auch in ihren Minderwertigkeitskomplexen.

Mir persönlich bedeutet der 3. Oktober überhaupt nichts: Das ist ein Fantasiedatum. Für mich ist der 9. Oktober 1989 der entscheidende Tag gewesen, die Montagsdemo in Leipzig, als die Stadt unter dem Eindruck der gewaltsamen Polizeiaktionen in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober stand. Da hingen in der Nikolaikirche die Gedächtnisprotokolle der Verhafteten und Deportierten, überall war die Polizei und die Stasi, es war eine schreckliche Atmosphäre wie in einer belagerten Stadt. Die Angst war mit den Händen zu greifen. Und ich hatte auch Angst und bin nach Hause gegangen.

Dank der Bürgerrechtler und einer Leipziger Initiative kam es an dem Tag nicht zu Gewalt. An dem Tag ist mir klar geworden, dass dieses DDR-System keine Zukunft hat. Und an dem Tag habe ich gemerkt, was es bedeutet, wegzulaufen. Aber der 3. Oktober hat für mich keinen historischen Hintergrund.

Die ‚Deutschland, halt’s Maul‘-Demo betrachtete ich eher als Happening. Ich habe ein bisschen damit sympathisiert, fand es aber auch ziemlich schräg. Ich war mit meinem norwegischen Freund da, ein überzeugter Linker, der in Rostock studiert hatte. Er war viel begeisterter als ich, er hat mich da mitgezogen. Als wir später im Ostbahnhof Kaffee getrunken haben, wurde er zusammengeschlagen. Er trug eine Lederjacke, so ein bisschen Glatze – da haben sie ihn für einen Nazi gehalten. Das fand er ganz köstlich.“ PROTOKOLL: ALKE WIERTH