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Genial im Wurf

KAPITALISMUS Raoul Pecks Film „Der junge Karl Marx“ läuft in den Kinos, und Rudolf Walther denkt über Friedrich Engels’Weitsichtigkeit in dessen „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ nach

Im Spielfilm „Der junge Karl Marx“ von Raoul Peck mit August Diehl in der Hauptrolle gibt es eine Szene, in der der junge Friedrich Engels (1820–1895) dem Philosophen Marx empfiehlt, statt griechischer Philosophen und Hegel Bücher der Ökonomen Adam Smith und David Ricardo zu lesen. In der nächsten Szene sieht man Marx über Smith’„Wealth of Nations“ englische Vokabeln büffeln. Beide Szenen sind frei erfunden, haben aber einen historischen Kern. Engels hat Marx mit seinem genialen Text „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“ aus dem Jahr 1844 erst zum Studium der politischen Ökonomie motiviert.

Vom November 1842 bis August 1844 hielt sich Engels in der väterlichen Fabrik in Manchester auf, also in einer industriell fortgeschrittenen Region der Welt. Was er sah, schockierte ihn. Seine Abrechnung mit den englischen Zuständen verknüpfte analytische Schärfe mit politisch-moralisch grundierter Kritik. Gleich der erste Satz in den „Umrissen“ ist ein Fanal: „Die ­Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.“ Bis heute erhebt die Nationalökonomie, die in Deutschland auch als „Volkswirtschaftslehre“ auftritt, aber mit den Interessen des arbeitenden Volkes nichts zu tun hat, den Anspruch, Wirtschaft beziehungsweise Wirtschaftslehre für die Gesellschaft zu sein. Dabei macht sie – wie die Betriebswirtschaftslehre – fast nichts anderes, als die banale Plusmacherei des Kaufmanns akademisch zu kostümieren.

Engels begriff in seinen „Umrissen“ auf nur 25 Druckseiten, dass jede Analyse der ökonomischen Lage zwangsläufig mit politisch-moralischen Minimalansprüchen verbunden sein muss, wenn „Nationalökonomie“ mehr sein möchte als eine substanzlose Phrase im Rahmen realitätsferner mathematischer Modelle oder Statistiken über Durchschnittseinkommen und -vermögen. Die moralischen Minimalansprüche formulierte Engels zwar in einer Weise, die heute als antiquiert erscheint, wenn er sich etwa auf deren „reine menschliche, allgemeine Basis“ beruft oder den Ökonomen vorwirft, sie brächten „ein raffiniertes Recht des Stärkeren“ ins Spiel. In heutiger Diktion bezog er sich damit jedoch auf unbestreitbare Normen wie „Chancengleichheit“, „soziale Gerechtigkeit“ oder die radikale Kritik an der als „natürlich“ propagierten Ungleichheit. Ökonomische Theorie, so Engels 1844, will nicht wissen oder weiß nur zu genau, „welcher Sache (sie) dient“, und verkommt damit zu Zynismus oder Interessentenprosa.

Vom Merkantilismus zur „freien Marktwirtschaft“

Engels argumentierte in den „Umrissen“ historisch. Die Theorie der Handelsbilanz des Merkantilismus im 16. und 17. Jahrhundert schottete Nationen voneinander ab, plädierte für hohe Zollschranken, verbot Exporte, rechtfertigte Handelskriege und erklärte das Horten von Metallgeld zum Staatsmonopol und obersten Staatsziel. Aber der Übergang vom Merkantilismus zur „freien Marktwirtschaft“ erweist sich bei Licht besehen nur als Wechsel vom „Monopol des Staates“ zum „Monopol des Privateigentums“ (Engels). Das Leitbild des Merkantilismus war ein Staat, der nach mehr politischer und militärischer Macht strebte. Dieses Leitbild gleicht in seiner grobianischen Einfachheit aufs Haar neoliberalen Staatszielen von „America first“ bis zur neudeutschen Ideologie der Schuldenbremse und der Senkung der Staatsquote nach innen sowie der Behauptung der Exportweltmeisterrolle nach außen.

Handelsfreiheit und freie Konkurrenz – so Engels – verwandelten „die Menschheit in eine Horde reißender Tiere“. Das arbeitsteilige Fabriksystem ermöglichte die Kinderarbeit, Eltern entdeckten ihre Kinder als zusätzliche Einnahmequelle und ließen sich vom Lohn der Kinder Kost und Logis von ihnen erstatten: Familienleben im Zeichen von Kreuz und Kapital.

Engels erkannte, dass die Produktivitätsfortschritte von Industrie und Wissenschaft „die der Menschheit zufallende Arbeit bald auf ein Minimum verringern“ könnten. Aber die Privatökonomie führte dazu, dass gleichzeitig „überflüssiger Reichtum“ und „überflüssige“, also die arbeitslose und verarmte „Bevölkerung“ entstanden. – Gustav Mayer, der bis heute maßgebliche Engels-Biograf, nannte die „Umrisse“, was sie sind: „genial im Wurf“, weil Engels den Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft nicht ausblendete und deshalb nicht bei der banalen Vorstellung eines normativ angeblich alternativlosen und moralfreien Marktes landete.  Rudolf  Walther

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