: Jubeln, trösten, herzen
Nordderby Mit dem überzeugenden Sieg gegen den HSV werden bescheidene Bremer allmählich zu Europapokal-Kandidaten
aus Bremen Ralf Lorenzen
Die letzte halbe Stunde war angebrochen, es stand 1:1 und die Werder-Anhänger fragten sich, wen Trainer Alexander Nouri wohl einwechseln würde, um der Offensive neuen Schwung zu geben: Altmeister Claudio Pizarro oder den wieder genesenen Serge Gnabry. Nouri brachte Florian Kainz, und der schoss gute zehn Minuten später den 2:1-Siegtreffer. Ein weiteres Kapitel im wundersamen Bremer Zusammenspiel zwischen Trainer, Mannschaft und Fans war geschrieben. Nach dem Schlusspfiff zeigten sich allerdings völlig unterschiedliche Einschätzungen in der viel beschworenen Werder-Familie: während Spieler und Trainer stur am Ziel Klassenerhalt festhielten, ließen sich die Fans von den erreichten 39 Punkten und Platz acht in der Tabelle zu „Europapokal, Europapokal“-Gesängen hinreißen. Doch Alexander Nouri hatte auch für diesen Ziel-Konflikt den passenden Moderationsansatz bereit: „Die Fans dürfen natürlich träumen. Aber so lange rechnerisch noch alles möglich ist, bleiben wir bescheiden.“
In Bremen werden im Moment viele Sätze mit einem Augenzwinkern gesagt. Nach neun Spielen ohne Niederlage fällt vieles leichter. Bis zum Schlusspfiff blieb dieser Derby-Sieg allerdings vor allem das Produkt harter Arbeit. In einem intensiven, kämpferisch geprägten Spiel ließ Werder zu Beginn die in den letzten Spielen gezeigte Effektivität vermissen. Der HSV hingegen verwandelte gleich seine erste Möglichkeit in ein Kopfballtor von Michael Gregoritsch. Doch zu den Qualitäten, die Werder sich in den letzten Monaten erarbeitet hat, gehört vor allem Stabilität. Mit großer Ruhe und Überzeugung wurden weitere Chance herausgearbeitet, die zu den Treffern von Max Kruse (41.) und Kainz (75.) führten.
Der Siegtreffer des jungen Österreichers zeigte vieles von dem, was diese Bremer Mannschaft im Moment neben der Stabilität ausmacht. Zum einen die individuelle Klasse, mit wenigen Ballkontakten zum Abschluss zu kommen, wobei in diesem Fall besonders der letzte Pass von Max Kruse eine unwiderstehliche Beschleunigung in den Angriff brachte. Dass der Jubel den Torschützen als erstes in die Traube der Auswechselspieler führte, in der er kurz vorher noch gestanden hatte, war zudem schönes Bild für den Zusammenhalt in dieser Mannschaft.
Es ist noch nicht lange her, da guckten die Bremer Anhänger sehnsuchtsvoll nach oben, zu Klubs wie Hertha BSC, dem 1. FC Köln oder Eintracht Frankfurt – und fragten sich: Was können die, was wir nicht können? Nun spielt Werder auf Augenhöhe gegen diese Teams um den Einzug in die Europa Leauge. Seit Alexander Nouri die Geschicke in der Hand hält, ist Woche für Woche zu verfolgen, wie mit ruhigen, kalkulierten Schritten aus den Trümmern einer ehemaligen Meistermannschaft wieder ein überzeugender Organismus heranwächst. Zu dem hat Sportchef Frank Baumann durch kluge Transferpolitik Juwele wie Gnabry, Kruse und Thomas Delaney beigesteuert.
Dass es trotzdem vor allem auf den Teamgeist ankommt, ist eine Binsenweisheit, die von achtzehn Bundesligatrainern auf jeder Pressekonferenz wiederholt wird. Wer die Bremer Spieler dabei beobachtetet, wie sie sich herzen, trösten, bejubeln und vor allem füreinander rennen, sieht den großen Unterschied zwischen Behauptung und Umsetzung des hehren Anspruchs.
Bei der Rückschau wird leicht vergessen, an welch seidenem Faden die Bremer Erfolgsserie hing. Wenn das erste dieser Spiele, das hart erkämpfte 2:0 Sieg bei Mainz 05, verloren worden wäre, säße Nouri höchstwahrscheinlich nicht mehr auf dem Stuhl. Kein Wunder, dass der Trainer sich weiter in Demut übt. Seine Mannschaft hat allerdings, wie Kapitän Zlatko Junozovic zugegeben hat, bei den „Europapokal“-Gesängen vor der Ostkurve schon kurz mit eingestimmt.
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