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So einfach geht es nicht

FLÜCHTLINGSDEAL Erdoğan droht, aber die Lage ist jetzt anders als 2015

BERLIN taz | Immer wieder drohte der türkische Präsident der EU, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen: „Wenn ihr zu weit geht, dann werden die Grenzen geöffnet, merkt euch das!“, sagte Recep Tayyip Erdoğan im November, als das EU-Parlament die Beitrittsverhandlungen stoppen wollte.

Allerdings lassen sich Zustände wie 2015 nicht einfach so wiederherstellen. Der Deal verpflichtet die Türkei, „alle erforderlichen Maßnahmen“ gegen illegale Migration in die EU zu ergreifen. Die Türkei verhindert deshalb Schlepperei an den Landgrenzen mit Griechenland und der Türkei und an den Küsten der Ägäis. An der Landgrenze hat dies kaum einen Unterschied gemacht: In den beiden Quartalen vor dem Deal kamen hier insgesamt 3.800 beziehungsweise 2.500 Menschen über die Grenze, in den beiden Quartalen danach jeweils 1.700.

An der Seegrenze hingegen waren es schon zuvor weniger geworden: nach 483.000 im letzten Quartal 2015 waren es 154.000 im Quartal vor der EU-Türkei-Vereinbarung. Zwar sanken die Zahlen danach weiter auf rund 10.000 je Quartal. Aber die meisten, die rauswollten, hatten die Türkei bereits verlassen.

Sie kamen nicht nach Europa, weil die Grenzen offen waren – das waren sie nicht –, sondern weil die Versorgung in der Türkei zusammenbrach: Die Hilfsorganisationen hatten so wenig Geld, dass sie nur noch Lebensmittelrationen für 0,50 US-Dollar pro Tag ausgeben konnten. Wer trotzdem blieb, hatte Gründe: einen Job, hohes Alter, Krankheit, Kinder, kein Geld für die Schlepper, keine Kontakte in Europa, das Bedürfnis, nahe an Syrien zu bleiben. Daran ändert sich nichts, nur weil Erdoğan mit dem Finger schnippt.

Heute leben 2,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Die Grenze zu Syrien ist zu, es kommen kaum noch Flüchtlinge. 250.000 Menschen in staatlichen Camps und rund rund eine Million außerhalb beziehen Hilfsgüter von NGOs. Diese zu behindern ist schwierig: Es ist vor allem der türkische Rote Halbmond, der die Versorgung organisiert. Den kann Erdo­ğan nicht einfach als europäisches U-Boot blockieren, auch wenn das Geld aus dem Ausland kommt.

Auch kommt nicht infrage, die Lage der Flüchtlinge durch den Entzug der Arbeitserlaubnis künstlich zu verschlechtern: Die haben nur 10.000 Syrer. Die meisten haben informelle Jobs. Ihre Lage ist zweifellos prekär. Aber die Vorstellung, sie alle würden sich in Boote setzen, nur weil die Türkei die Schlepper wieder gewähren lässt, ist abwegig. Rund 60.000 Menschen sitzen in Griechenland fest. Ungarn und Bulgarien haben 470 Kilometer Zäune gezogen. 8.000 Flüchtlinge sind in Serbien, Ungarn sperrt alle Ankommenden ein. Dem setzt sich nur aus, wer dafür gute Gründe hat. Erdoğans Wünsche sind keine guten Gründe.

Christian Jakob

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