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Aus linker Perspektive

Politisches Kino „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ von Marita Neher und Tatjana Turanskyj entgeht der Falle, nur Botschaften zu transportieren

von Fabian Tietke

Aller Anfang ist pixelig in „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ von Marita Neher und Tatjana Turanskyj. Ein Konvoi Polizeifahrzeuge schiebt sich am Spreeufer vorüber, eine Demonstration gegen Überwachung verschafft sich lautstark Gehör, alle Gesichter sind gepixelt, außer einem Lautsprecherwagen mit Kraken auf dem Dach ist auf den Bildern nicht mehr viel zu sehen.

Währenddessen auf dem Wasser: Eine Journalistin führt ein Interview mit einem Manager über Zäune, Grenzzäune. Im Hintergrund spielt eine Männerrunde ein Stripspiel und gröhlt von Zeit zu Zeit „ausziehen, ausziehen“. Aus diesem infernalischen Kontrast verschlägt es uns mit der Protagonistin wenige Einstellungen später nach „Griechenland 2014“.

Lena, die Journalistin mit dem Interview über Zäune, fährt ins nordgriechische Thrakien an die griechisch-bulgarische Grenze. Sie recherchiert zur europäischen „Sicherheitspolitik“ – also zur europäischen Abschottungspolitik im Mittelmeerraum. Die Recherche ist eher ziellos. Zu Anfang umkreist die Journalistin ein gefängnisartiges Lager und versucht ein Gespräch mit einem der Verantwortlichen zu bekommen. Als das scheitert, quartiert sie sich in einem Hotel auf einem Hügel ein und dreht mit ihrem Handy ein Video der Lageranlage, führt mit einer griechischen Anwohnerin, die für die Polizisten des Lagers kocht, ein kurzes Gespräch.

Auf einer der vielen Irrfahrten über griechische Feldwege steht unvermittelt eine junge Frau am Straßenrand. Lena hält, die junge Frau steigt ein. Abends, im Sessel, im Hotel, hört sich die Journalistin die Gespräche des Tages noch einmal an. Als sie am nächsten Morgen aufbricht, taucht Amy, so heißt die Mitfahrerin, erneut auf und fragt, ob sie weiter mitfahren kann.

Im Laufe der Fahrt, in der Konfrontation mit den allgegenwärtigen Spuren der Migration und des Grenzregimes, werden die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Frauen deutlich: Lena, die Journalistin, der ihr Beruf gerade genug einbringt, um davon leben zu können, glaubt an die politische Funktion einer Berichterstattung über die Wirklichkeit an der EU-Außengrenze. Amy, die politische Aktivistin, glaubt an direktere Aktionen.

Als es in den Gesprächen der beiden ans Eingemachte geht, stellt sich heraus, dass Amy in einer Eigentumswohnung der Eltern wohnt und ein finanziell ziemlich sorgenfreies Leben führt. Lena wiederum will Amy zu klischeehaften Politposen am Mittelmeer überreden, da prallen Welten aufeinander.

„Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ inszeniert die Ratlosigkeit darüber, wie aus einer linken Perspektive auf die Herausforderungen der Welt zu reagieren wäre. Weder Lena noch Amy wollen die Welt hinnehmen, wie sie ist, weder Lena noch Amy wissen, wie sich die Welt oder auch nur die EU-Grenzpolitik ändern ließe. Beide sind sich der Grenzen ihres jeweiligen Ansatzes wohl bewusst – das wird in der Dünnhäutigkeit erkennbar, mit der beide auf die Vorwürfe der jeweils anderen reagieren.

Im Regiestatement des Presseheftes schreiben Neher/Turanskyj: „Unser Film [. . .] ist ein Hybrid, das sich aus Dokumentar-, fiktionalen und inszenierten sowie improvisierten Szenen zusammensetzt. [. . .] Ein Essayfilm, getarnt als Roadmovie. [. . .] Die realen Menschen und Ereignisse beeinflussen ihre Reise und greifen so in den ‚fiktiven‘ geplanten Ablauf ein. Die Realität entgrenzt die Fiktion [. . .]“. Die hybride Form, die über weite Strecken langsamen, bedächtigen Dialoge von „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ eröffnen den Raum zur Reflexion. Immer wieder wandert der Blick der Kamera hinaus aufs Meer und wirft so die Zuschauer_innen mit den Protagonistinnen auf sich selbst zurück.

Bis heute leidet politisches Kino darunter, dass das Medium Film oft nur „Transportunternehmen“ ist – wie Ekkehard Knörer unlängst zu Ken Loachs „Ich, Daniel Blake“ schrieb. Die Form des Films, die Bilder haben viel zu oft keinen Eigenwert. Marita Neher und Tatjana Turanskyj skizzieren in „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ eine mögliche andere Form selbstreflexiven politischen Kinos, das keine leichtfertigen Auswege vorgaukelt. Eine andere Form hat unlängst Julian Radlmaier in „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ angedeutet: das komödiantische Aushöhlen der eigenen Überzeugungen. Zwei Positionen, die beweisen, dass es unter dem Radar des großen Kinos in Deutschland ein lebendiges politisches Kino gibt.

Beide werden in wenigen Monaten vom Verleih Grandfilm in die Kinos gebracht und führen so über die Distanz hinweg ein Gespräch über die Möglichkeiten eines antipathetischen politischen Kinos. Eine ideale Konstellation: Denn so kurz „Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“ mit gerade einmal etwas über 70 Minuten ist – der Film braucht seine Zeit, um zu wirken. Ein Film, um danach vielleicht erst nach dem ersten Getränk wirklich anzufangen zu reden.

„Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen“. Regie: Marita Neher, Tatjana Turanskyj. Mit Nina Kronjäger, Anna Schmidt u. a. D/GR 2016, 76 Min.

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