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Archiv-Artikel

Im Besetzungsfieber

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Folgt man Luhmanns Analyse der Medien-erzählung, brauchen wir alle vier Jahre einen neuen Kanzler

Zur Lösung der anstehenden Probleme setzt eine Mehrheit von 38 Prozent auf eine große Koalition, 28 Prozent sehen in einer Regierung aus CDU/CSU, FDP und Grünen die beste Option. 13 Prozent nennen die „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen, 7 Prozent eine Koalition aus SPD, Linkspartei.PDS und Grünen. Falls es zu einer großen Koalition kommt, hätten 46 Prozent lieber Gerhard Schröder als Bundeskanzler, 45 Prozent votieren für Angela Merkel als Regierungschefin. Süddeutsche Zeitung“ vom 24./25. 9. 2005

Nein, niemand hat Lust, jetzt auszunüchtern und das Prophezeien sein zu lassen. Zwar kam die Koalition der Schwarzen, Gelben und Grünen, auf die sich die Medienerzähler mit einer gewissen Leidenschaft kapriziert hatten, nicht zustande; doch verabschiedete man die Grünen hoffnungsfroh in die nahe Zukunft, wo es mindestens auf Länderebene zu Koalitionen der Grünen mit den Schwarzen kommen werde/solle, bald.

Woher die Leidenschaft, die Hoffnung? Es wäre einfach etwas Neues gewesen, wenn wir jetzt regelmäßig Renate Künast in derselben Show hätten auftreten sehen wie den tückischen Markus Söder; Guido Westerwelle erörtert gemeinsam mit Krista Sager vor der Bundespressekonferenz die kontroverse Außenpolitik der Regierung. Das hätte man noch niemals vorher gesehen, und haargenau deshalb muss es her. Wenn nicht jetzt, dann eben später.

Das Zentralproblem der Medienerzähler ist, so hat es der Meister Luhmann erklärt, dass sie heute eine Nachricht brauchen, die sich deutlich von der gestrigen unterscheidet. Sonst lohnt das Erzählen nicht. „Der Enkel macht weiter“ schrieb die Süddeutsche Zeitung lustlos zu einem Foto, das Gerhard Schröder nach der Wahl 2002 vor der Willy-Brandt-Skulptur im Berliner SPD-Haus zeigt, und die Formulierung verrät, wie enttäuscht der Erzähler war. Nicht weil er aus politischer Überzeugung Stoiber als Kanzler gewünscht hätte; sondern weil „macht weiter“ absolut keine Nachricht ist.

Insofern verlief die Bundestagswahl 2005 traumhaft. „Klarer Sieg für Angela Merkel“, das wäre angesichts der Prophezeiungen, wie sie seit Monaten an der Wand erschienen, schon keine richtige Nachricht mehr gewesen. „Riesenüberraschung: Schröder siegt zum dritten Mal“, das hätte zwar weit mehr Kontur und Kontrast gebracht, wäre aber schon am nächsten Tag verpufft gewesen, denn danach wäre nur noch Langweiliges über die Regierungsbildung gekommen, dass Werner Riester als Innenminister durch Erhard Klimmt ersetzt wird oder was weiß ich, alles vergessbar.

Nein, dagegen ist es, wie es jetzt kam, ideal. Jeden Tag die Chance einer Riesenüberraschung, CDU/CSU und FDP ohne eigene Mehrheit, jawoll; FDP verweigert sich Koalitionsgesprächen mit SPD und Grünen, geil; CDU/CSU verhandelt mit den Grünen, cool!

Und dann Tag für Tag die Frage, wann Schröder endlich aufgibt. Dass er irgendwann aufgeben müsste, darin waren sich die Medienerzähler, wenn ich richtig sehe, von Anfang an merkwürdig einig. Warum? Weil er sich angeschnarcht hatte, als voreingenommen und destruktiv, bei dem berühmten Ausbruch am Wahlabend, der, wie ich immer wieder erzähle, amerikanische Journalisten bei einem Abendessen ihre Bewunderung einbekennen ließ?

Warum sei dem Regierungschef ein Temperamentsausbruch verboten? Und das nach einem Wahlkampf, aus dem die Medienerzähler immer wieder berichtet hatten, Schröder absolviere ihn mit unermüdbarer Bravour, Riesenüberraschung! Und das nicht zuletzt gegen die Medienerzähler, die, die taz hat es einbekannt, längst wussten und immer wieder sagten, was sie am 18. September melden würden.

Er hätte schon die Wahl 2002 verlieren müssen, klar. Dann forderte irgendein Mann vom Stern, wenn ich mich richtig erinnere, dass er, statt die neue rot-grüne Regierung zu bilden, zurücktreten solle, damit Wolfgang Clement Kanzler werden könne, ja, Wolfgang Clement. Letzte Woche wurde er übrigens in irgendeiner Talkshow Vizekanzler. Folgt man dem Meister Luhmann in seiner Analyse der Medienerzählung, dann brauchen wir jede Legislaturperiode einen neuen Bundeskanzler. Nein, noch öfter: warum verzichtete Gerhard Schröder nach den furchtbaren Niederlagen in Hessen und Niedersachsen auf den Rücktritt? Er hätte das Kanzleramt an Sigmar Gabriel abgeben müssen – nein, Unfug, ging ja schlecht, Gabriel war der Verlierer in Schröders Niedersachsen.

Dabei ist Sigmar Gabriel ein quirliger und lustiger Typ, und er bewarb sich so demonstrativ nicht um das Amt des SPD-Generalsekretärs, schreibt der Tagesspiegel, dass man vollkommen sicher sein kann, er will es haben. Gut käme er als Sozialminister von Angela Merkel. Otto Schily wird Außenminister, und Vizekanzler wird Peer Steinbrück, wie seit langem bekannt, ja, Peer Steinbrück. Auf dem Parteitag in Brighton übergibt Tony Blair sein Amt an Gordon Brown, außerdem tritt Königin Elisabeth den Thron an Prinz Charles ab, der seinerseits sofort zugunsten von Prinz William verzichtet. Bleibt Angela Merkel. Es fällt auf, wenn ich richtig sehe, dass kein Medienerzähler ihren nahen Abgang prophezeit. Gibt’s da einen Schuldzusammenhang, weil sie so lange und so hartnäckig ihren Sieg vorauswussten, und jetzt verbindet sie der Misserfolg der Prophezeiung mit dem Misserfolg der Kandidatin? Nein, sie hat doch gewonnen, drei Mandate mehr zählt die schwarze Fraktion, und das ist keine politische Größe, die in die Verhandlungen eingeht, sondern so offensichtlich der Sieg wie eine höhere Torzahl im Fußballspiel.

„Angela Merkel, das ist wie so ein Farbklecks im Rorschach-Test“

Allerdings bleibt skandalös, dass der Bundeskanzler den Torstand nicht anerkannte. Dabei war er doch selber mal Fußballer. Ach, er ist einfach so machtgeil – so kennen wir ihn seit je –, dass er die Realitätsprüfung meidet. Das ist natürlich die Nachricht, die immer noch einmal erzählt zu werden verdiente, der machtgeile Nochkanzler verirrt sich in seinen Illusionen, während die wahre Wahlsiegerin still, aber entschlossen in den Kulissen zuwartet.

Unsere Freundin Jutta sieht es anders. Sie hielt Angela Merkel von vornherein für eine Art neutrales Medium, das zu jeder Art von Projektion einlud. Dass ausgerechnet diese traurige Person, wie die Medienerzähler genau wussten, den großen Aufbruch Deutschlands anführe, könne ernstlich niemand glauben. Eben darin verriet sich der projektive Charakter der Siegesgewissheit. „Angela Merkel, das ist wie so ein Farbklecks im Rorschach-Test.“

In der alten Welt, in archaischen Gesellschaften sind Frauen die symbolischen Tauschobjekte, mittels deren Männer ihre Beziehungen regeln. „Das hängt uns immer noch an.“ Die Männer der CDU/CSU, erschöpft und demoralisiert von internen Beißereien, konnten über das Merkel-Neutrum Frieden finden. Die männlichen Medienerzähler brachten seit langem den virilen Bundeskanzler in Wut; auch hier schenkte die Frau ohne Reiz Frieden. „Und Alice Schwarzer hätte endlich bewiesen, dass Frauen gleichfalls Männer sind. Dass ihnen der Penis fehlt, ist gefälligst zu ignorieren.“