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Auf Entzug

Migration „El mar la mar“ ist ein Film über die Sonora-Wüste im Norden Mexikos – ein politischer Film natürlich, denn dort sterben Fliehende

Erst sieht man: huschende Kamera, Licht, Pflanzen. Wo man ist, weiß man nicht. Es ist die Wüste, das wird nach und nach klar. Stimmen hört man, die ganz deutlich sind, sie kommen nicht aus dem Raum, den man sieht. Man sieht nicht die Gesichter zu den Stimmen, man sieht überhaupt sehr wenige Gesichter, man sieht Oberflächen, Wüste, Pflanzen, später einen sehr langen Zug, 152 Waggons lang ist der Zug, der von rechts nach links durch das Bild fährt, die Einstellung hält, sie zeigt sein Kommen und sie zeigt sein Gehen. Dieses wie andere Bilder sind schön. Die Fledermäuse in riesigen Schwärmen, die Grillen, die fliegen, das Feuer, das brodelt oder die Rücken von Hügeln, über die wie im Scherenschnitt eine winzige Gestalt kaum entzifferbar geht. Alles sehr schön.

„El mar la mar“ ist ein politischer Film, weil ein Film über die Sonora-Wüste im Norden Mexikos nichts anderes als ein politischer Film sein kann. Hier sterben Menschen, die in existenzieller Not von Mexiko in die USA zu fliehen versuchen. Davon zeigt der Film, der mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet wird, Spuren. Dazu lässt er die Stimmen aus dem Off auch Geschichten erzählen. Die Regisseure Joshua Bonnetta und J. P. Sniadecki wählen für diesen politischen Film eine Darstellungspolitik, die sich aus einem ganz eigenen Formenrepertoire bedient. Man sieht 16 mm, sieht nachdrücklich, dass man oft auch nichts sehen soll, das Schwarzbild steht für diesen Entzug, der nicht sein müsste und umso spürbarer ist. Man könnte sehr viel mehr erzählen, mehr zeigen. Nicht nur Fledermäuse, Feuer, Spuren im Sand, auch Menschen, die bezeugen, was ihnen geschah.

So, wie er ist, ordnet der Film – alles – die Wüste, die in ihr Lebenden und auch die, die in ihr sterben – ein in ein Formrepertoire, das er beherrscht. Es ist das Repertoire des dokumentarischen Experimentalfilms, der Repräsentationslogiken, die er mit Gründen missbilligt, durch Repräsentationslogiken ersetzt, an deren Angemessenheit er zu wenig zweifelt.

Der Film besteht aus drei Teilen, die Bildtafeltrenner sind ganz besonders stark von künstlich erzeugten Materialschlieren befallen. Der dritte Teil ist anders als die ersten beiden, die viel länger sind. Er ist schwarzweiß, grobkörnig digital, er trägt den Titel „Tormenta“, man sieht Landschaft und hört ein Gedicht. Das Pathos des Entzugs wird mit dem Pathos der Poesie noch getoppt. Es gibt auch im Entzug ein Zuviel.

Ekkehard Knörer

18. 2., 19 Uhr, Akademie der Künste

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