: Linke und rechte Stereotype
DEBATTE Nach seinem Überraschungserfolg „Arrival City“ rechnet Doug Saunders nun mit dem „Mythos Überfremdung“ ab
VON ANDREAS FANIZADEH
Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“ Das hat der deutsche Rechtspopulist Thilo Sarrazin gesagt und wurde mit solchen Thesen zum Bestsellerautor in Deutschland. Er formuliert, wovor sich viele nach 9/11 und mit den neuen Migrationen fürchteten: islamischer Extremismus, Einwanderung in die Sozialsysteme, Untergang des Abendlands.
Doch trotz der unglaublichen Popularität ergab sich aus Sarrazins Denken in Deutschland keine neue politische Kraft. Im Gegenteil: In ganz Westeuropa dürften die terroristischen Attacken fanatischer Nazis (NSU in Deutschland, Anders Breivik in Norwegen) dem auf bürgerlich getrimmten Auftreten antiislamischer Kulturkämpfer schwer geschadet haben. Deutlich wurde, wie nahe die Rhetoriken antiislamischer Biedermänner und rechtsradikaler Täter oftmals beieinander liegen.
Hinzu kommt aber auch, dass die bevölkerungspolitischen Drohszenarien der Neuen Rechten sich als unhaltbar erwiesen. Darauf rekurriert der kanadische Autor Doug Saunders nun in seinem Buch „Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung“. Er begibt sich in die Niederungen der bevölkerungspolitischen Statistiken, um die Rechte mit ihren eigenen Methoden zu widerlegen. Niederungen, da der Gegenstatistik ebenfalls die Vermessung nach Abstammungskriterien zu Grunde liegt und so der ethnizistische Geist der gesamten Methode nur schwer zu dekonstruieren ist.
Dies einschränkend angemerkt, sind Saunders Auswertungen empirischer Untersuchungen zum Sozialverhalten muslimischer Einwanderer im Westen erhellend zu lesen. Sie machen deutlich, dass sich fast überall muslimische Migranten schnell an die Gepflogenheiten ihrer neuen Umgebung anpassen. So beginnen sich bereits mit der zweiten Generation, die Geburtenraten von Alteingesessenen und Zugewanderten anzugleichen. Die Furcht der Sarrazins vor zehnköpfigen Muslimfamilien hat im weltweiten Verstädterungs- und Modernisierungsprozess keine Grundlage. Selbst im autoritären Gottesstaat Iran sank die Geburtenrate zuletzt von 7 auf 1,7 Kinder, nähert sich damit der extrem niedrigen des erzkatholischen Italiens (1,4) an. Ähnliches gilt für Deutschland, die Deutschtürkinnen der zweiten Generation steuern ebenfalls auf die extrem niedrige Geburtenrate von 1,4 der Alteingesessenen zu.
Saunders belegt, dass von einer islamischen Unterhöhlung Europas qua Geburtenschwemme, wie sie Sarazzin oder der Niederländer Wilders behaupten, keine Rede sein kann. Doch auch in anderer Hinsicht übernehmen westliche Muslime zumeist rasch die Werte ihrer neuen Umgebungen. Immerhin 47 Prozent der deutschen Muslime tolerieren hier und heute Homosexualität (der nichtmuslimische Durchschnitt liegt bei 68 Prozent). In den USA sind nach Saunders 16 Prozent aller muslimischen Bürger antiisraelisch eingestellt. Der US-amerikanische Durchschnittswert liegt bei 12 Prozent, also keine besondere Abweichung erkennbar.
Mitunter verklärt Saunders die Statistiken jedoch in gutmenschlicher Absicht. Schlechte Schulabschlüsse lassen nicht allein auf staatliche Diskriminierung schließen, bildungsferne Herkunftshaushalte steuern auch selbst etwas dazu bei. Und während der „Arrival City“-Autor der Migration aus der Dritten Welt huldigt, meint er diese selbst vor äußerer Einmischung reinhalten zu müssen, interpretiert vieles nach den vorglobalen Mustern einer steinalten linken Antiimperialismustheorie. Damit sitzt Saunders in der gleichen Falle wie Judith Butler, die religiös-faschistische Bewegungen nicht als solche zu benennen weiß. Al-Qaida ist kein „Avatar des ultralinken Radikalismus“.
■ Doug Saunders: „Mythos Überfremdung. Eine Abrechung“. Aus d. Engl. v. Werner Roller. Blessing Verlag, München 2012, 256 Seiten, 18,99 Euro