piwik no script img

Ich hätte der Mutter gern ein paar Ohrfeigen gegeben, aber Gewalt ist keine LösungJede Hürde ein feindlicher Akt

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

Katrin Seddig

Gestern beobachtete ich eine junge Frau mit einem Kinderwagen, die ratlos vor der kaputten U-Bahn-Rolltreppe an der Ritterstraße in Hamburg hielt. Es fanden sich quasi sofort zwei hilfsbereite Leute, die den Kinderwagen die Treppen hochtrugen, die Mutter lief mit dem Kind an der Hand hinterher. Das Kind stellte Fragen, warum es jetzt aus dem Wagen musste, warum die fremden Leute seinen Wagen trugen usw.

Die Mutter ging nicht direkt darauf ein, aber sie beugte sich zu dem Kind runter, sah ihm ins Gesicht und sagte, mit einer Stimme voller Hass: „Weißt du, die Leute von der Bahn möchten einfach nicht, dass Leute mit Kindern, oder alte Leute, die nicht mehr so gut gehen können, mit der Bahn fahren.“ Das Kind starrte die Mutter an. Ich hätte der Mutter gern ein paar Ohrfeigen gegeben. Aber Gewalt ist keine Lösung.

Mir wurde plötzlich klar, wie es dazu kommt, dass viele Menschen sämtliche Missstände der Welt auf sich persönlich beziehen. Da beugt sich eine vermutlich wohlsituierte junge Mutter, mit einem offensichtlich teuren Kinderwagen, die gerade sowohl Hilfsbereitschaft als auch Freundlichkeit erfahren hat, zu ihrem kleinen Kind. Nicht, um ihm zu erklären, dass die Welt voller freundlicher Menschen ist, die umstandslos bereit sind, einen fremden Kinderwagen zu tragen. Sondern um zu erklären, dass die Welt ihm feindlich gesinnt ist. Dass es sich nicht um einen Missstand handelt, um eine Unvollkommenheit der Welt, der Hamburger Hochbahn (HVV), um einen Mangel, einen groben Fehler, sondern um einen feindlichen Akt.

Die Welt, gibt sie ihm zu verstehen, wenn sie nicht vollkommen auf dich und deine Bedürfnisse eingestellt ist, ist gegen dich. Später einmal, wenn das Kind eine Vier schreiben wird, wird dieselbe Mutter der Meinung sein, dass die Lehrerin das Kind hasst und ihm die Zukunft verbauen will. Das Kind wird lernen, jede Hürde im Leben als feindlichen Akt zu begreifen, sich jeden Misserfolg mit der Bosheit anderer zu erklären. Wenn du mir nicht nützt, kannst du nur mein Feind sein.

Man kann natürlich bemängeln, dass die Hamburger Hochbahn nicht an allen Stationen Fahrstühle eingebaut hat, dass an manchen Stationen die Rolltreppen quasi immer kaputt sind. Man kann das sogar hart kritisieren. Für Rollstuhlfahrer ist eine solche Station nicht nutzbar. Und der HVV hat in den vergangenen Jahren stetig die Preise erhöht. Jedes Jahr muss ich mehr bezahlen, obwohl ich nicht jedes Jahr mehr verdiene.

Die Schülerkarten sind viel zu teuer. Es gibt keine Abstufungen für die Schülerkarten. Im Berufsverkehr, also acht Uhr morgens oder um 16 Uhr, wenn die Schüler mit ihren Schülerkarten unterwegs sind, dann werden sie, wie die meisten Berufstätigen, auf manchen Strecken einfach eingequetscht. Sie bekommen kaum Luft und müssen immer stehen. Meine Kinder kennen das gar nicht anders. Aber sie sind immer noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass die Hamburger Hochbahn einen Hass auf Schüler hat, dass sie nicht möchte, dass die mit der Hamburger Hochbahn fahren.

Wenn Flüchtlinge vor deiner Nase wohnen, dann stört dich das vielleicht, aber sie wollen dich nicht stören. Sie hassen dich noch nicht mal, auch wenn sie dich stören. Der Obdachlose, der dich anbettelt, der stört dich vielleicht auch, aber er will dir nicht das Leben versauen, mit seinem Anblick. Das hat er nicht im Sinn.

Die Welt ist voller Unvollkommenheiten, voller Fehler und man kann sich beschweren und auch aufregen. Aber wenn man seinem Kind erklärt, dass jede Störung eine persönliche Ablehnung bedeutet, dann erzieht man es zu einem sich ständig um seine Existenz ängstigenden Menschen, der alles, was ihm in die Quere kommt, als Bedrohung empfindet und kein Verständnis für andere Menschen, für andere Haltungen und Interessen mehr aufbringen kann.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen