Aufputschmittel für die Demokratie
: Kommentar von Stefan Reinecke

Die große Koalition kommt. Alle scheinen sich derzeit damit abzufinden, zaghaft zwar, aber in der Richtung eindeutig. Die SPD gewöhnt sich an die Idee, dass Gerhard Schröder nicht Kanzler bleiben muss. Angela Merkel ist so scharf darauf, Kanzlerin zu werden, dass sie nun sogar die „soziale Gerechtigkeit“ zu ihrer Herzenssache erklärt. Die politischen Leidenschaften kühlen ab. Man fasst das Machbare in den Blick.

Dies ist ein Sieg der politischen Ratio. Die Projekte der großen Koalition sind schon vage sichtbar: Staats- und Föderalismusreform, eine leise Revision von Hartz IV. Also umsetzen, was schon in der Schublade liegt. Ansonsten wird die große Steuerreform mit nüchternem Blick auf das Haushaltsloch zu den Akten gelegt werden.

Aber ist die große Koalition nicht Gift für die Demokratie, ein Betablocker für das Parlament? Ist sie nicht Ausdruck des deutschen, autoritären Traumes, dass die Politiker sich vertragen sollen? Ein Ergebnis der stickigen Sehnsucht, dass sich alle in der Mitte treffen, weil es dort so schön warm ist?

In dieser Mitte wird es nicht warm sein. In dieser Koalition wird es kalt-pragmatisch zugehen. Und die Lage ist fundamental anders als 1965. Damals repräsentierte die große Koalition fast 90 Prozent, heute repräsentiert sie nur noch gut zwei Drittel der Wähler. Damals war die FDP die einzige Opposition, zerrissen in einen altrechten und linksliberalen Flügel, war sie weniger Gegner als Spiegel der Regierung.

Dies ist 2005 anders. Die Marktradikalen in der FDP rüsten sich schon für rhetorische Schlachten gegen die große Koalition der Etatisten von Seehofer bis Müntefering. Die Linkspartei wird energisch als das schlechte soziale Gewissen der SPD auftreten. Die Grünen werden sich als Verfechter von Bürgerrechten und Ökologie inszenieren, die in der großen Koalition in der Tat kaum Lobbys haben werden.

Die Gesellschaft driftet auseinander. Die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitslosen und Arbeitsplatzbesitzern wird größer. Das hat die Wahl gezeigt. Dies wird der kommende Bundestag spiegeln, in dem es härter zugehen wird als früher. Die große Koalition wird kein Tranquilizer für die Demokratie. Eher ein Aufputschmittel.