: Zwischen Absurdität und Tragik
VERFILMUNG Zerdehnung der Zeit: „Vernarbte Herzen“ des rumänischen Regisseur Radu Jude basiert auf Max Blechers gleichnamigem Sanatoriums-Roman
von Fabian Tietke
Rauchend, eine Tasche auf dem Schoß, sitzt Emanuels Vater neben ihm in der Kutsche, als diese im Sommer 1937 zu einem Sanatorium an der rumänischen Schwarzmeerküste klappert. Rheuma wurde dem Sohn attestiert, schon die erste Untersuchung korrigiert die Diagnose: Emanuel ist an Knochentuberkulose erkrankt. Sein Einzug ins Sanatorium beginnt mit der schmerzhaften Punktierung eines Abszesses und einem Gips, der die von den Tuberkulosebakterien angegriffenen Wirbel ruhigstellen soll.
Die Patienten führen Emanuel Stück für Stück in die fremde Welt des Sanatoriums jenseits der kalten gekachelten Behandlungszimmer ein: die wilden Diskussionen und die nächtlichen Partys mit viel Alkohol als einzigem gemeinschaftlichem Vergnügen. „Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“ von Radu Jude beruht auf dem ersten von zwei Büchern, die Max Blecher seinem Leben im Sanatorium widmete – dem autobiografisch gefärbten Roman „Inimi cicatrizate“ („Vernarbte Herzen“), erschienen 1937, ein Jahr vor Blechers Tod mit nur 28 Jahren. Radu Judes Romanverfilmung spiegelt Emanuels Wahrnehmung seines Aufenthalts im Erzähltempo des Films, lässt auf die Entdeckung der neuen Welt des Sanatoriums eine sich zerdehnende Zeit der Monotonie folgen.
Besuche von Solange
Die einzigen beiden Dinge, die die Zeit von Emanuels Aufenthalt im Sanatorium strukturieren, sind die Beerdigungen gestorbener Patienten und die Besuche Solanges, die nach einer eigenen Erkrankung immer wieder zu Patientenbesuchen ins Sanatorium zurückkehrt. Die Affäre der beiden ist für Emanuel der einzige Ausbruch aus der Monotonie wechselnder Behandlungen, die seine Gesundheit nicht bessern.
Emanuels stagnierender Krankheitsverlauf ist durchwoben mit Echos der Zeitgeschichte: In hitzigen Diskussionen zwischen den Patienten, Radioberichten von der Wahl in Rumänien im Dezember 1937, die einen weiteren Aufstieg der faschistischen Eisernen Garde brachte, und vorgelesenen Zeitungsmeldungen dringen die politischen Krisen des Europas der 1930er Jahre in die ansonsten abgeschlossene Welt des Sanatoriums.
Die Wiederentdeckung Max Blechers in Deutschland in den Übersetzungen Ernest Wichners fand Mitte der nuller Jahre parallel zum Aufstieg der rumänischen Neuen Welle im Kino statt. In einer Rezension der deutschen Übersetzung von Blechers Romandebüt „Aus der unmittelbaren Wirklichkeit“ schrieb Harald Hartung in der FAZ: „Blechers Prosa ist tatsächlich Körperprosa. Sie öffnet sich der Welt wie der Protagonist seine als löcherig empfundene Haut.“ Radu Jude ist sichtlich bemüht, ein filmisches Äquivalent für diese „Körperprosa“ zu finden. So ist „Scarred Hearts“ durchzogen von einer Körperlichkeit, die sich sprachlich in den bisweilen ironisch-zynischen, bisweilen resignierten Selbstbeschreibungen Emanuels äußert, sich aber zuallererst in den Bildern der Patienten niederschlägt. In der Inszenierung der Umständlichkeit einer Sexszene zwischen Emanuel und Solange beispielsweise beweist Jude großes Gespür für die Gratwanderung zwischen Absurdität und Tragik bei der Suche nach Bildern, die die Selbstwahrnehmung der Patienten sichtbar werden lassen.
Surrealer Klinikalltag
Interessanterweise nutzen Radu Jude und sein Bildgestalter Marius Panduru zudem gerade jene Elemente, mit denen der Film historisiert wird (die vorherrschenden mittleren Einstellungen aus Halbtotalen und Halbnahen, die Lichtgestaltung und Farbgebung, das klassische Bildformat 1:1,37, gedreht auf analogem 35mm-Film), um einerseits die Enge der Räume im Sanatorium fühlbar zu machen, zugleich jedoch die Surrealität des Lebens im Sanatorium detailliert festzuhalten. Dieser kontinuierliche Spin ins Absurde bewahrt „Scarred Hearts“ vor der Starrheit eines Historienfilms.
Radu Jude hat sich schon vor zwei Jahren mit dem Walachei-Western „Aferim“ von jenem Gegenwartsrealismus verabschiedet, mit dem die rumänische Neue Welle berühmt wurde. Mit „Scarred Hearts“ führt Radu Jude diese Entwicklung fort. Wie schon in „Aferim“ verlegt sich Jude in die Geschichte und entwickelt in Abgrenzung zu ihrer oft zum Klischee geronnenen Darstellung im Film neue Bildformen, ohne zugleich die Präzision der filmischen Analyse preiszugeben, die die Filme der Neuen Welle prägte. Auch andere Vertreter des rumänischen Kinos wie Cristi Puiu mit „Sieranevada“ befinden sich in einer Phase der Neuausrichtung. Man darf gespannt sein, ob es diesem Kino gelingen wird, seine Sichtbarkeit im Ausland zu bewahren. Sowohl Puiu als auch Radu Jude haben mit ihren letzten Filmen gezeigt, dass es sich lohnt, ihr filmisches Werk weiter zu verfolgen – dem Absetzbewegungen von der Neuen Welle eine aufregende neue Unberechenbarkeit gegeben haben.
„Scarred Hearts – Vernarbte Herzen“. Regie: Radu Jude. Mit Lucian Teodor Rus, Gabriel Spahiu u. a. Rumänien/Deutschland 2016, 141 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen