Ritt auf dem Reformationshype

THEATER Auch die „Lessingtage“ des Thalia-Theaters machen dieses Jahr die Reformation zum Thema. Ein Verzicht auf die brennenden Fragen der Gegenwart sei das aber gerade nicht, sagt Intendant Joachim Lux

Mit der Reformation hat der Auftakt nur auf den zweiten Blick tun: Szene aus Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, das am Freitag Premiere gefeiert hat Foto: Krafft Angerer

von Katrin Ullmann

Landauf, landab wird ordentlich gefeiert. Mit zahlreichen Ausstellungen und frisch geharkten Rundwanderwegen, mit Gesellschaftsspielen, Apps und einer Playmobil-Sonderfigur mit Schreibfeder und Bibel – und am 31. Oktober sogar erst- und einmalig mit einem bundesweiten Feiertag. Denn am 31. Oktober vor 500 Jahren soll Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür zur Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben. Damit leitete er nicht nur die Spaltung des westlichen Christentums in verschiedene Konfessionen ein, sondern setzte auch eine Erneuerung in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur in Gang. Heute gilt das Jahr 1517 deshalb als Beginn einer Entwicklung, die die ganze Welt verändert hat.

Auch das Thalia-Theater widmet jetzt bis zum Sonntag kommender Woche seine diesjährigen „Lessingtage“ der Reformation. Die hatten sich in den vergangenen Jahren vor allem mit interkulturellen Fragen und Themen wie Aufruhr, Flucht, Vertreibung und Protest auseinandergesetzt. Dass sie nun ebenfalls auf den deutschen Ritt auf dem Reformationshype setzen, irritiert also auf den ersten Blick.

Aber viele Fragen führten von Luther „direkt ins Heute“, betont Intendant Joachim Lux. Nur was bedeutet Reformation heute in Bezug auf Religion? Können Religionen, kann ihre Definition noch reformiert werden? „Der ,göttliche‘ Absolutheitsanspruch vieler Religionen schließt das eigentlich aus und führt leicht zur Kritikunfähigkeit ihrer Institutionen“, sagt Lux. Andererseits seien Religionen eben menschengemacht und es gebe viele Beispiele für Reformen, für religiöse Revolten und Häresien – wie die Reformation selbst, aber auch die Konflikte um die Selbstaufklärung des Islam.

Natürlich lässt sich auch ein Martin Luther groß denken, lässt sich das Thema der Reformation, der „Erneuerung“ größer fassen und auf etliche gesellschaftliche Diskurse anwenden. So seien Stücke im Programm, erläutert der Intendant, „die sich mit der heutigen Situation und der oft fehlenden Selbstaufklärung der Religionen befassen“.

Dazu gehören dann wohl Hagen Rethers Programm „Liebe“, in dem der Kabarettist Religionsfreiheit und die „Lizenz zum Töten“ dekliniert. Oder der diskursive Abend von Nuran David Calis: „Glaubenskämpfer
 – Religionssuche zwischen Kloster, Moschee und Synagoge“, eingeladen aus dem Schauspiel Köln.

Ohne Frage eine Auseinandersetzung mit dem Christentum sind auch die „10 Gebote“, die in der Regie von Jette Steckel am 21. Januar am Deutschen Theater Berlin zur Uraufführung kamen. Die Auftragsarbeit – eine fast vierstündige Dekalog-Aktualisierung – versteht sich ausdrücklich als „zeitgenössische Recherche“. Im Thalia in der Gaußstraße ist außerdem das „Martin Luther Propagandastück“ vom HAU Berlin sowie das Diskurs- und Tanztheaterstück „Città del Vaticano“ von Falk Richter und Nir de Volff aus dem Schauspielhaus Wien zu sehen.

Und auch das Herz der Lessingtage, die „Lange Nacht der Weltreligionen“ am Donnerstag, spielt im Untertitel „Reformation und Rebellion“ natürlich ausdrücklich auf den Augustinermönch an und lädt Bischöfe, Rabbiner und Religionswissenschaftler zu Diskussion und Austausch ein – und also auch dazu, laut über Glauben und Nicht-Glauben nachzudenken.

Viele Fragen führten von Luther „direkt ins Heute“, sagt Intendant Joachim Lux

Der Auftakt hingegen kommt mit der Premiere von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ unter der Regie von Philipp Becker und dem Gastspiel der Berliner Schaubühne „Wallenstein“ in der Inszenierung von Michael Thalheimer eher klassisch historisch daher. Aber auch das seien Stücke, wendet Lux ein, „die davon erzählen, wie die religiösen Auseinandersetzungen in Europa unseren Kontinent in Schutt und Asche gelegt haben, mit Millionen Toten“.

Ähnlich ist es mit den zwei Eigenproduktionen, die im Thalia in der Gaußstraße zu sehen sind. Ersan Mondtags Orhan-Pamuk-Adaption „Schnee“ und Branko Šimics und Armin Smailovics Völkermord-Abend „Srebrenica – I counted my remaining life in seconds“ haben mit Reformation auf den ersten Blick nicht viel zu tun.

Und überhaupt: Ist uns nach all den Ereignissen und Religionsdiskussionen der vergangenen Zeit nicht vielmehr nach einer Religionsdiskussionspause zumute? Lux wischt auch diesen Zweifel zur Seite: „Ich habe den Eindruck, dass in den Religionsfragen, die in unsere Gesellschaft über den islamischen Fundamentalismus quasi importiert wurden, nichts wirklich geklärt ist.“

Immerhin: Sie hätten uns – wenn man dem etwas Positives abgewinnen wolle – die Ungeklärtheit unserer eigenen Religionsfragen deutlich vor Augen geführt. So wie Lessings Ideendrama „Nathan der Weise“ vor 237 Jahren.

„Lessingtage“: bis 5. Februar, Thalia-Theater