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FilmpremiereEin anderes Sehen

Frank Amann porträtiert in seiner Dokumentation „Shot in the Dark“ drei (fast) blinde KünstlerInnen.

Orientierungslos im Raum: Bruce Hall fotografiert seine Umgebung so, wie er sie sieht Foto: déjà vu Filmverleih

Erst wenn Bruce Hall aus Orange County, Kalifornien, ganz dicht an Dinge und Menschen herantritt, kann er sie erkennen. Das erfordert eine sonderbare Form der Fortbewegung. Hall ist orientierungslos im Raum, seinen Kopf streckt er aus wie Hände zum Tasten, nur bei sehr geringer Distanz sieht er scharf. Diese Wahrnehmung hat Hall in Kunst umfunktioniert. Er fotografiert seine Umwelt so, wie er sie sieht. Dabei entstehen Nahaufnahmen, die Einblicke ermöglichen, die einem sonst entgehen würden.

In Frank Amanns „Shot in the Dark“, der heute seine Berlin Premiere im Eiszeit und Sputnik feiert und morgen in der Brotfabrik zu sehen ist, kann man Bruce Hall begegnen. Aber nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie. Hall ist Vater dreier Kinder, zwei von ihnen sind Zwillinge, Jungs. Beide sind Autisten und über die Fotografie nähert sich Hall auch ihnen. Betrachtet er die Aufnahmen für die Bearbeitung später am Computer, kann er die Gesichter seiner Söhne erkennen, wie es ihm sonst nicht möglich ist. Einmal fragt Amann ihn, wie oft er so vor dem Computer sitze. „Eigentlich immer“, antwortet Hall.

Shot in the Dark

Berlin-Premiere von „Shot In The Dark“ (mit Protagonist*innen und dem Regisseur) am 19. 1. um 20 Uhr im Eiszeit-Kino, Zeughofstr. 20. Am nächsten Tag läuft der Film u.a. um 18 Uhr im Kino in der Brotfabrik, Caligariplatz 1

Fotografie ersetzt das Sehen

Ein Leben, bei dem die Fotografie paradoxerweise das ausgefallene Sinnesorgan ersetzt, führen auch die anderen beiden Künstler, die Amann in „Shot in the Dark“ porträtiert: Sonia Soberats und Pete Eckert. Ähnlich wie Hall bewegen auch sie sich in einem bestimmten Rahmen, der einige Vertrauenspersonen und besondere Technik(en) einschließt.

Pete Eckert beispielsweise ist fast nie ohne seine Ehefrau zu sehen, die er kennenlernte, als er noch sehen konnte. Er erzählt, dass er sie gewarnt hätte, ihn zu heiraten, denn mit einem Blinden zusammenzuleben, das sei kein Spaß. Und wie wenig spaßig die allmähliche Erblindung gewesen ist, das protokollieren auch zahlreiche Zeichnungen und Drucke, die Pete Eckert in dieser Phase angefertigt hat und die ebenfalls im Film zu sehen sind.

Inzwischen sagt er, er sei gar nicht völlig blind, sondern dass sich eine neue Art von Sehen etabliert habe. Eckert sieht etwa seine Knochen leuchten, wenn er gesund ist. Als er beginnt Tai-Chi zu praktizieren, leuchtet sein Skelett wie noch nie zuvor. Eckert und seine Fotos erscheinen stellenweise etwas unheimlich, er arbeitet mit starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, fotografiert Lichtspuren im Raum und Kirchenräume. Insbesondere ihn hat Frank Amann mit einer düsteren und mysteriösen Aura umgeben.

Sowieso ist die kreierte Atmosphäre eine der Stärken dieses Films, der einen glauben lässt, man hätte es mit einer völlig anderen Wirklichkeit zu tun. Und tatsächlich hat man das gewissermaßen ja auch. Trotzdem stellt sich nicht nur ein Gefühl der Fremdartigkeit ein, sondern auch der Dankbarkeit: selbst etwas sehen zu dürfen, das einem für gewöhnlich verborgen bleibt. In „Shot in the Dark“ werden die Künstler zu Sehenden, während der Zuschauer erkennen muss, dass auch er häufig im Dunkeln steht – und es noch nicht einmal merkt.

Im Film werden die Künstler zu Sehenden, der Zuschauer steht im Dunkeln

Das ist ein Eindruck, der möglicherweise auch bei Amann entstanden ist, als er auf den Katalog zu „Sight Unseen“ stieß, einer Ausstellung im California Museum of Photography, die sich den Arbeiten fünfzehn blinder Künstler widmete und nach dessen Sichtung Amann beschloss, „Shot in the Dark“ zu drehen. Im Katalog müssen auch die Bilder von Sonia Soberats enthalten gewesen sein, einer in New York lebenden Dame, die 1934 in Caracas, Venezuela, geboren wurde und die erst im Alter von 57 Jahren erblindete.

Surreales Lightpainting

Ihre künstlerischen Visionen bedürfen der Unterstützung vieler Personen, Soberats inszeniert ganze Aufstellungen, die surrealen Bühnenstücken gleichen. Die hier verwendete Methode nennt sich Lightpainting, mithilfe einer Taschenlampe und langen Belichtungszeiten werden die opulenten Szenerien illuminiert. Wie Bruce Hall und Pete Eckert erweist sich auch Sonia Soberats als inspirierendes Wesen, dem zuzuhören und zuzusehen lohnt.

Um konzentriertes Zuhören geht es auch beim „Konzert im Dunkeln“ anlässlich des Kinostarts von „Shot in the Dark“: In der Villa Neukölln tritt am 23. Januar, 20 Uhr, das aus blinden und sehenden Musikern gebildete Ensemble Die Planung an, um live mit Klanglandschaften und Songs durch die vollständige Dunkelheit zu führen.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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