: Der Truthahn schreit
Art’s Birthday Gänseschmalz und musikalische Geröllhalden: In der Berghain-Kantine feierte man 1.000.054 Jahre Kunst
Vielleicht möchte man wissen, dass an einem 17. Januar mit dem Tod des Kaisers Theodosius I. das Römische Reich in Westrom und Ostrom, Letzteres besser bekannt als Byzanz, geteilt wurde. Eine Frage der Erbfolge. Das war im Jahr 395. Außerdem kauften an einem 17. Januar die Vereinigten Staaten von Amerika Dänemark für 25 Millionen US-Dollar die Jungferninseln ab (1917), und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen traf sich zu seiner konstituierenden Sitzung (1946). Der nachmalige Gangster Al Capone wurde geboren (1899), das Schachgenie Bobby Fischer ist gestorben (2008). Und außerdem kam an einem 17. Januar die Kunst in die Welt.
Letzteres Wissen verdankt man dem französischen Fluxuskünstler Robert Filliou. Der verkündete 1963, dass an diesem Tag die Kunst eben präzise eine Million Jahre alt geworden sei. Hübsch dabei, dass der Geburtstag der Kunst ganz zufällig auf den gleichen Tag wie der Tag der Geburt des Künstlers Filliou fiel. Jedenfalls wird seither am 17. Januar weltweit Art’s Birthday gefeiert.
In der Berghain-Kantine machte man das am Dienstagabend mit ein paar Einheiten Klangkunst. Drei Darbietungen, drei Uraufführungen. Um damit gleich mal unter Beweis zu stellen, dass das mit der Kunst auch immer neu weitergeht.
Den Auftakt machte der sich neugierig auf den unterschiedlichsten künstlerischen Terrains umschauende Avantgardemusiker Sven-Åke Johansson, der mit dem Hörspiel- und Theatermacher Oliver Augst in einer Sprechperformance seine „Schraubenlieder“ vortrug. Dadaphilosophische oder einfach sprachverliebte Texte, gern als zeilenkurze Miniatur. Ins Absurde drängende Beobachtungen und Erfindungen, die noch mal etwas absurder klangen, wenn Augst und Johansson aus dem Sprechmodus in einen Singsang wechselten. „Es hackt herum, das feingefiederte Federvieh. Gänseschmalz, Gänseschmalz, Gänseschmalz. Und der Truthahn schreit.“
Lässig kunstbeflissen
Was ja durchaus ein interessantes Smalltalk-Thema ist, so ein schreiender Truthahn, bei einer Party für die Kunst. Die in der Kantine nicht gerade eine ausgelassene Feier des Überschwangs war, sondern eher gesetzt. Lässig kunstbeflissen hörte man sich das alles an, als Nächstes eine Komposition von Frédéric Acquaviva. Eine Collage. Ein blubberndes Brummen, schleifende Töne, ein Pfeifen, was Acquaviva alles einem alten Buchla-Synthesizer abgehört hat. Es klang wie ein durchgeknallter Spielautomat, gegen den der französische Komponist noch Loré Lixenberg mit Achterbahn-Vokalisen antreten ließ. In Einblendungen verkündete Acquaviva außerdem, dass er nicht schwitzen würde bei seiner Arbeit und dass man hier „no groovy electronics“ höre.
War es auch nicht. Groovy. War eher so eine durchaus ungemütliche Kunst mit dem kleinen abgespreizten Finger des Nervfaktors. Oder schon wieder deren Simulation. Und die „Functional Mating Calls“ von Pierce Warnecke, versprochen als Untersuchung der Paarungsrufe von Tieren, Menschen und Maschinen, waren halt auch nur eine weitere musikalische Geröllhalde mit geknautschten Klängen und Stimmen.
Der Künstler aber schaffte sich daran so an seinem Computer, dass er möglicherweise sogar ins Schwitzen kam.
Robert Filliou, der Kunstgeburtstagserfinder, hat in Sachen Kunst übrigens auch diesen hintersinnigen Satz hinterlassen: „Kunst ist, was das Leben interessanter macht als Kunst.“ Oder eine weitere universale Weisheit, Sven-Åke Johansson verkündete sie beim Kunstgeburtstag in einem der „Schraubenlieder“: „Alles gleicht sich aus. So wie heißer Tee auch lauwarm wird.“ Thomas Mauch
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