: Integration mit der Trillerpfeife
Fußball In seiner Heimat Syrien war Ammar Sahar Schiedsrichter in der ersten Liga. Jetzt leitet er Spiele im Berliner Lokalfußball
von Francis Laugstien
Um 14.06 Uhr gibt Schiedsrichter Ammar Sahar den Ball frei: Anstoß zum 15. Spieltag der Berlin-Liga. Ein ungleiches Fußballspiel beginnt. Der Tabellenletzte 1. FC Wilmersdorf empfängt den Spitzenreiter SC Staaken. Bereits nach wenigen Minuten liegt der Ball das erste Mal im Wilmersdorfer Tor. Bis zur Halbzeit haben die Gäste ihren Vorsprung auf 0:3 ausgebaut. Sahar kann zufrieden sein: drei Treffer, keine Karten. Bis zur Pause ist es eine faire Begegnung. Aber im Publikum spricht man über ihn: „Das ist ein Flüchtling aus Syrien“, erklärt eine Frau. Ob die Kommunikation klappt?
Sie klappt. Sahar ist ein erfahrener Schiedsrichter. Als er im November 2015 nach Deutschland kommt, hat er in Syrien schon mehrere Erstliga-Spiele geleitet. Auf dem Platz kommuniziert er in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Armbewegungen. Zum Fußball kommt Sahar in seiner westsyrischen Heimatstadt Hama. „Ich war dort mehrere Jahre Spieler in einer Jugendmannschaft“, sagt er. 2006 steht er das erste Mal als Schiri bei einem Juniorenspiel auf dem Platz. Schnell steigt er in höhere Ligen auf. Anfang 2011 gibt er sein Debüt in der Syrischen Profiliga, der höchsten Spielklasse des Landes.
Doch Sahar kann seinen Erfolg nicht lange auskosten. Im selben Jahr, in dem der Jura-Student in die erste Liga aufsteigt, bricht in Syrien der Krieg aus. Auch die syrische Sportwelt wird durch den Konflikt getroffen: Wegen der angespannten Sicherheitslage beschließt der syrische Verband bereits im März 2011, die Profiliga auszusetzen. Zwar wird der Spielbetrieb im November wieder aufgenommen. Wegen der Kämpfe wird nun aber in einem verkürzten Modus gespielt. Für Sahar ist das keine gute Lösung. Die Sicherheitslage, so erzählt er, ist mittlerweile katastrophal. „In der Saison 2012 gab es Spiele, bei denen Granaten auf dem Rasen einschlugen.“ Zwei Spieler aus Hama seien bei einem Auswärtsspiel gestorben, weil eine Bombe ihr Hotel traf.
Am Wilmersdorfer Volkspark muss niemand um sein Leben fürchten. Sahar wird trotzdem gefordert: Die Gastgeber wollen es nach der verpatzten ersten Halbzeit noch einmal wissen. Das Spiel nimmt Fahrt auf, die Gemüter erhitzen sich. Immer wieder muss der Schiedsrichter eingreifen. 68. Minute: erste gelbe Karte gegen einen meckernden Wilmersdorfer. Zwei weitere Verwarnungen folgen. „Spielt mal wieder Fußball“, raunzt ein Spieler seine Kollegen an.
Die Berlin-Liga ist die höchste Spielklasse des Berliner Fußballverbandes (BFV). Der Meister steigt am Ende der Saison in die Oberliga Nordost auf. In der Hierarchie der deutschen Ligen steht die Berlin-Liga auf Platz 6.
Schiedsrichter kann jeder werden, der einen Lehrgang beim BFV absolviert. Für die Zulassung müssen die Bewerber am Ende eine schriftliche Prüfung und einen Sporttest bestehen. Quereinsteiger aus anderen Verbänden können ihre Eignung durch Zertifikate und Testspiele beweisen.
Geflüchtete können sich schon jetzt in jedem Fußballverein anmelden. Im April 2016 startete der BFV außerdem das Projekt „Fußball grenzenlos“, mit dem er Flüchtlinge noch besser einbeziehen möchte. Bald soll es unter anderem eine Schiedsrichterausbildung für sie geben. (laug)
Sahar behält die Kontrolle. „Als Schiedsrichter musst du cool bleiben, erst recht, wenn der Job unangenehm wird.“ Stressige Situationen habe er während seiner Laufbahn schon öfter erlebt: Ende 2011, als es in Syrien immer gefährlicher wird, flieht er mit seiner Verlobten Lobana in den Libanon. Nach zwei Jahren ist er dort Schiedsrichter in der zweiten Liga. „Der libanesische Fußball ist ziemlich aggressiv“, erinnert er sich. „Ich musste mir auf dem Platz einiges anhören.“
Den Entschluss, nach Deutschland zu gehen, fasst das heute verheiratete Paar im September 2015. Damals verbreitet sich das Gerücht, in Europa werde die Fluchtroute über den Balkan geschlossen. „Wir haben sofort unsere Sachen verkauft und uns Flugtickets nach Izmir besorgt.“ Dass Lobana im sechsten Monat schwanger ist, hält sie nicht ab. Zu groß die Angst, eine einmalige Chance zu verpassen.
Um von der türkischen Hafenstadt nach Griechenland zu gelangen, besteigen sie eines der berüchtigten Flüchtlingsboote: 27 Menschen auf einem Kahn von neun Quadratmetern. „Wir haben extra einen Aufpreis bezahlt, damit die Schlepper nicht noch mehr Leute ins Boot setzen.“ 1.200 Dollar muss jeder Passagier für die Überfahrt bezahlen.
In Berlin angekommen, kann Sahar schnell an seine Karriere anknüpfen: Nach der Registrierung beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) kontaktiert er den Berliner Fußball-Verband, trifft sich im März mit Jörg Wehling vom Schiedsrichterausschuss. „Wir haben Ammar Sahar zuerst in der Landesliga eingesetzt“, erklärt Wehling. „Was er dort gezeigt hat, war sehr überzeugend.“ Nach drei Spielen wird Sahar in die Berlin-Liga beordert, die höchste Spielklasse des Berliner Fußball-Verbands.
Wenn Sahar nicht auf dem Platz steht, besucht er einen Integrationskurs. Nach der Bewilligung seines Asylantrags kann er zunächst für drei Jahre in Deutschland bleiben. In Berlin kommt sein Sohn Nidal auf die Welt. Die kleine Familie lebt in einer Wohnung in Hohenschönhausen. Ob es dort manchmal Probleme wegen ihrer Herkunft gibt? „Nein, ich habe deshalb noch keinen Stress gehabt, weder in meiner Nachbarschaft noch auf dem Fußballplatz.“
Auch in Wilmersdorf ärgert man sich höchstens über das Ergebnis. Am Ende des Spiels gehen die Hausherren mit einer 2:5-Niederlage vom Feld.
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