: Der Monsterpilz vor Münchens Toren
Wer Glück hat, trifft wenigstens einmal im Leben auf das mysteriöse Gewächs: den sagenhaften Boletus kolossalis
Ab Ende August, spätestens Mitte September geht vor den Toren Münchens, in „Kieferngarten“ und in der „Fröttmaninger Heide“, ein Spektakel los, gegen das das weithin prominente Oktoberfest ein schnödes Gerangel ist: Da nämlich, wenn es vor dem gewohnt heißen und wolkenfreien bayerischen Spätsommer noch mal anständig heruntergewittert hat, ploppen sie nur so aus dem Boden, die Pilze, und zwar in solcher Pracht und Zahl, dass theoretisch jedem Oktoberfestbesucher ein Pfund zugeteilt werden könnte, wenn denn jemand von den wenigen Eingeweihten so dumm wäre, ein solches Distributionsexperiment anzustellen.
Und also bimmelt der Wecker eines Morgens, und der Pilzfreund schwingt sich zu möglichst früher Stunde aufs Rad, um dem Massenangriff der Madenarmeen zuvorzukommen. Das Messer ist gezückt, der Korb erwartet freudebebend die duftende Last – doch das Jahr 2005 hat sich unangenehme Überraschungen ausgedacht: Die Kiefernbestände, deren Wurzelwerk der Röhrling sonder Zahl zu entsprießen pflegte, sind gelichtet, die Moosfelder verkarstet, überall modert und müffelt ein zivilisatorisches Chaos von Sägespänen, Restholzspreißeln und Reifenspuren herum, und von der gewohnten Beute ist gar überhaupt nichts zu erblicken. Ein vereinzelter Parasol kümmert im prallen Sonnenlicht dahin, aber in solch gärtlicher Umgebung könnte das auch der tückische Giftschirmling sein, den lässt man lieber stehen und weitertrocknen. Ansonsten: null.
Wo sind sie hin, die Stein-, Semmel-, Schusterpilze, Bratlinge aller Sorten, Sand-, Maronen-, Hexenröhrlinge, Boviste, Trüffeln, Ziegenlippen, all die fröhlichen Kreise, Horden und Runden, zu schweigen von den Pfifferlingen? Nach stundenlangem Rundlauf will der Sucher verzweifeln, sich den Korb mit den seltsamerweise verbliebenen, jedoch vollkommen unbrauchbaren Knollenblätterwüstlingen vollschütten, um wenigstens beim Hinaustreten auf die nahe Ingolstädter Straße nicht vollends zum Gespött zu werden – da beschleicht ihn eine Ahnung: Könnte es sein, dass …?
In der Tat: Hinter einer der Kieferninseln, die die Amoksägen übrig gelassen haben, da schimmert was. Da schimmert sogar viel. Staunend, geschüttelt von Gänsehäuten der Aufregung angesichts eines möglichen Jahrhundertfunds, tritt man näher und tritt gleich wieder zurück, weil er nur aus angemessener Entfernung gebührend und gefahrlos zu betrachten ist … – er, denn wirklich und wahrhaftig: Er ist’s! Der Sagenhafte, von dem selbst am Stammtisch der erfahrensten Pilzler nur geraunte Gerüchte zu hören sind, weil ihn kaum ein menschliches Auge je erblickte, den mancher längst ausgestorben wähnt, während andere beharren, es habe ihn überhaupt nie gegeben. Der „Boletus kolossalis“! Der Volksmund nennt ihn „Riesenkesselpilz“, und wer ihn einmal sah, der weiß, warum.
Wenig ist über ihn bekannt. Essbar jedenfalls, da herrscht Einigkeit, ist er nicht, nur für das Ungeziefer, das sich in einem reifen Fruchtkörper in manchmal fünfstelliger Population tummelt. Beim Menschen hingegen soll schon der Anblick von weitem heftige Allergieanfälle auslösen können; von hypnotischer, berauschender Wirkung, Wahn und Umnachtung, wahren Veitstänzen ist die Rede. Dass er auf die Ausbreitung und Population anderer Pilze, aber auch auf Beeren, Kräuter, Hasen, Rehe, Füchse, diverse Vögel und andere Arten hemmende bis verheerende, ja vernichtende Wirkung hat, berichten die Quellen übereinstimmend – man hat sich ja soeben selbst davon überzeugen können.
Manche seiner Eigenschaften sind gänzlich unergründlich, so etwa die rätselhafte Geräuschentwicklung, von der einige Autoren künden, sie steigere sich bisweilen abends und an Nachmittagen des Wochenendes zu einem regelrechten Getöse, das, weithin hörbar, über 90 Minuten anhalten könne.
Da glotzt man ehrfürchtig, denn vor solcher Imposanz und Gewalt der Natur muss der Mensch verstummen. Da macht er sich noch schnell ein Bild, huscht hinfort und ist froh, ihn einmal gesehen zu haben – und davongekommen zu sein.
MICHAEL SAILER