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Archiv-Artikel

Crazy Campus-Katzen

Mitten im hormongetränkten Gewusel einer Eliteuniversität: Tom Wolfe unternimmt in seinem neuen Roman „Ich bin Charlotte Simmons“ einen neurobiologischen Großversuch am menschlichen Objekt

VON ULRIKE MEITZNER

Schon 1973 bekannte Tom Wolfe, in dem Sammelband „New Journalism“, wie sehr ihn die Hirnforschung faszinierte – auch wenn die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Alles deute darauf hin, so Wolfe, dass der menschliche Geist keine abgeschlossene, innerliche Existenz habe. Vielmehr sei das Bewusstsein des Selbst in jedem Moment mit dem Bewusstsein seines sozialen Status verkoppelt, ohne den das Ich nicht existieren könne. 1987 ließ Wolfe in „Fegefeuer der Eitelkeiten“ seine Hauptfigur, den Investmentbanker Sherman McCoy, diese Erkenntnis am eigenen Leibe spüren. Als er nach einer Fahrerflucht in die Fänge von Skandalpresse und Justiz gerät, erlebt McCoy eine Depersonalisierung. Außerhalb seines sozialen Kontexts, erniedrigt und verleumdet, wird der Banker zu einer leeren Hülle, die gefüllt ist mit den Projektionen anderer. Die Psyche sei eben, so zitiert Wolfe den Neurologen José Delgado, nur ein „vergängliches Konglomerat aus Materialien der Umgebung“.

Seinem neuen Roman, „Ich bin Charlotte Simmons“, hat Wolfe nun ein – fiktives – Experiment aus der Hirnforschung vorangestellt. Ein junger Forscher, Victor Ransom Starling, entfernte 1983 bei Katzen den Teil des Großhirns, der für die Steuerung von Gefühlen zuständig ist. Dabei gerieten nicht nur die manipulierten Tiere in Hitze und Kopulationswahn, sondern auch die Katzen der Kontrollgruppe. Eine Entdeckung mit Konsequenzen auch für das Verständnis menschlichen Verhaltens: Die Existenz, „ja, die Allgegenwart“ „kultureller Parastimuli“ könne dazu führen, „nach gewisser Zeit die genetisch determinierten Reaktionen absolut normaler, gesunder Tiere außer Kraft [zu] setzen“.

Unter diesen Vorzeichen ist der Versuch am menschlichen Objekt enorm spannend. Schon gar, wenn der Schauplatz eine Eliteuni ist, die fiktive „Dupont University“ in Pennsylvania. Ein Mikrokosmos der Eitelkeiten, in dem es allen, egal ob Verbindungsstudenten, Sportstars oder Intellektuellen, vor allem darum geht, hohe Trefferquoten beim anderen Geschlecht zu landen. In diesem hormongetränkten Gewusel setzt Wolfe seine Heldin aus. Charlotte Simmons – ein Name, der nebenbei ein Verweis auf den Gesellschaftsroman des 19. Jahrhunderts mit seinen Madame Bovarys und Effi Briests ist – hat gerade an ihrer Provinzschule in Sparta (sic!), North Carolina, einen fantastischen Abschluss gemacht und ein staatliches Stipendium für die Eliteuniversität Dupont ergattert. Ein modernes Schneewittchen von hinter den sieben Bergen, dessen anerzogener Puritanismus und echter Wissensdurst sogleich mit den gnadenlosen sozialen Codes ihrer Kommilitonen kollidieren. Ihre neue Mitbewohnerin, eine typische Internatszicke, verbannt sie schon bald mitten in der Nacht ins „Sexil“, weil das Zimmer für eines ihrer vielen Kurzabenteuer herhalten muss.

Charlotte bleibt aber keineswegs die unbefleckte Heldin. Der Druck der Gruppe und ihr Ehrgeiz reizen sie, den Marktwert ihrer eigenen Vorzüge zu testen: Intelligenz, ein hübsches Gesicht, eine gute Figur. Schon bald kreuzen ihre Wege die dreier Studenten, die gleichzeitig die drei Campuskasten vertreten – der eitle Burschenschaftler Hoyt, in den sich Charlotte verliebt; Adam, der Unizeitungsreporter, und Basketballstar JoJo.

Durch ihre Augen gewährt Wolfe detaillierte Einblicke in Milieus, die vielen Lesern extrem exotisch erscheinen müssen. Der Jargon des Unizeitungsvölkchens, die sich „Millenniumsmutanten“ nennen und davon träumen, die intellektuelle „Matrix“ des neuen Jahrtausends zu begründen, ist am Ende doch nur das Kluggeschwätz von Fünftsemestlern. Der prestigeträchtige Unisport stellt sich als Geldmaschine für einige abgebrühte Trainer dar. Und schließlich die studentischen Feiern in den Verbindungshäusern, wo nuttig angezogene Mädchen um Riesenbabys in Khakishorts buhlen und altes Bier und frisches Erbrochenes um die Wette stinken.

Wolfe, der in den Fünfzigerjahren seinen Ph.D. in American Studies von Yale erhielt, hat bei seinen Recherchen auch das studentische Nachtleben nicht ausgelassen, „um das weise Männer einen Bogen machen“. Eine so genannte Parkplatzparty, bei der Collegestudenten Bierbäder nehmen und Mädchen sich auf Truck-Ladeflächen begrabschen lassen, schildert Wolfe aus der Perspektive eines Ehemaligen, der mit seinen zwei kleinen Söhnen angereist ist und sich vergebens einredet, dass sie früher doch auch schlimme Burschen gewesen seien.

Ein ironischer Dreh wohl ist es, dass Charlotte ausgerechnet das Fach studiert, für das sie als Versuchskaninchen herhalten muss: Neurobiologie. Victor Ransom Starling, der Katzen-Experimentator, lehrt das Fach an Dupont. Wie Tom Wolfe hat dieser eloquente Professor ein Faible für dandyhafte Eleganz und für José Delgado, den Pionier der Hirnforschung. In der Vorlesung über Delgado erlebt Charlotte eine regelrechte Epiphanie, so fasziniert ist sie von der Theorie des durchlässigen Bewusstseins. Nicht ahnend, dass sie – eine weitere Ironie – kurze Zeit später auf einem Ball all ihre Individualität über Bord werfen wird und wie alle anderen trinkt und Sex hat – eben weil alle anderen es auch tun. Dass dem Exzess das böse Erwachen folgt, überrascht nicht. Ihr Schwarm lässt sie fallen, Charlotte ist wochenlang depressiv und verhaut die Prüfungen, inklusive Neurobiologie.

„Ich bin Charlotte Simmons“ fehlt die Schärfe und Stringenz, die das „Fegefeuer der Eitelkeiten“ kennzeichnet. Dafür fesselt die Entwicklung der jungen Protagonisten. Deren Jugend federt auch einige Desaster ab. Denn, wie ein Professor im Roman sagt: „Sie sind jung. Das ist ein unschätzbarer Vorzug, dessen Wert die meisten von uns erst viel zu spät erkennen.“

Tom Wolfe: „Ich bin Charlotte Simmons“. Aus dem Englischen von Walter Ahlers, Karl Blessing Verlag, München 2005, 800 Seiten, 24,90 €