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Archiv-Artikel

„Hier ’n Riss, da ’n Riss“

Klemmende Türen, hängende Decken: Mit Ilberstedt in Sachsen-Anhalt geht’s bergab – um bis zu 28 Zentimeter pro Jahr

Im Keller seines Hauses zeigt Hahndorf die Mauerrisse, meterlang. Und sie werden länger und länger

AUS ILBERSTEDT PHILIPP GESSLER

Am nächsten Tag kam die Stasi. Wollte wissen, wie das denn alles gemeint gewesen sei. Gisela Peller hatte ihren Bürgermeister angeschrien, weil der nichts tun wollte: „Die nächsten Wahlen kommen bestimmt!“, fuhr die Mittvierzigerin ihn damals an. Er blaffte zurück: „Das ist eine Revolte!“ Nach dem Besuch der Herren vom Ministerium für Staatssicherheit hielt sich Gisela Peller etwas mehr zurück. Dabei hatte sich an der Lage nichts geändert. Regelmäßig, morgens, mittags und abends, sprengten die Genossen vom Salzbergwerk etwa 500 Meter unter ihrem Wohnhaus im sachsen-anhaltischen Ilberstedt Salz aus der Erde. So heftig waren die Explosionswellen, dass die Häuser in der Breiten Straße des Dorfes regelrecht in die Luft hopsten – 0,5 bis 1 Zentimeter, so wurde errechnet. Doch alle Proteste halfen nichts, die Sprengungen gingen weiter. Das Salz der Werktätigen des Arbeiter-und-Bauern-Staates war wichtiger als Einzelschicksale. Und heute kommen die Schäden.

Ilberstedt nahe Bernburg bei Aschersleben liegt im Salzlandkreis – eine Gegend, die das weiße Gold im Erdinnern einmal groß machen sollte, der das Salz den Namen gab. Hier wurde schon seit 1912 Kali-Salz für Düngemittel abgebaut. Ein alter Förderturm in der Nähe des Bahnhofs von Ilberstedt kündet von dieser glorreichen Zeit, als das Deutsche Reich mit dem Kali-Abbau hier und im Elsass noch ein Monopol bei dieser Zukunftstechnologie besaß. Dann verlor dieses Salz an Bedeutung, der alte Förderturm dient heute nur noch als Wetterschacht, also der Belüftung der Kammern in etwa einem halben Kilometer Tiefe. Dort unten wird heute Steinsalz gewonnen. Es gilt als eines der reinsten in ganz Deutschland. Genutzt wird es nicht zuletzt zum Streuen der Straßen im Winter. Kalte Winter sind gute Winter sagen sie hier.

„Das geht ganz schön bergab mit uns“, sagt Gisela Peller, die in der Breiten Straße wohnt. Im vergangenen Jahr haben ihr Mann und sie das Dach ihrer Werkstatt im Hof machen lassen. Nun hängt die Decke zentimetertief in den Raum – man muss ein wenig Angst überwinden, um überhaupt hineinzugehen. „Im März ging das richtig los“, erzählt Gisela Peller, „hier ’n Riss, da ’n Riss.“ Die Fenster und die Türen klemmen. Es hat etwas Tragikomisches, wie sich die 64-Jährige gegen Türen stemmen muss, um sie öffnen zu können. „Da hat man geglaubt, man hat was fürs Alter“, sagt die frühere Erzieherin, „aber das ist keine Sicherheit mehr – im Gegenteil.“ Sie lacht kurz und bitter. Ein ängstlicher Mensch sei sie ja eigentlich nicht, und dass es im Schlafzimmer immer wieder knackt, hält sie aus. Aber dann kam die Katastrophe von Nachterstedt, nur 30 Kilometer von hier. Aufgrund der Folgen eines alten Kohletagebaus brach dort im Juli ein ganzer Hang weg, Häuser wurden in die Tiefe gerissen, drei Menschen starben. „Wenn das nicht gewesen wäre“, sagt Gisela Peller – und beendet den Satz nicht.

Die Decke hängt durch

Für 80.000 Euro hat Familie Peller im vergangenen Jahr in das Haus investiert – „weil wir wussten: Die Kinder ziehen mit ein.“ Auch eine Solaranlage gibt es jetzt. Die Schwiegertochter aber, die nun unterm Dach wohnt, geht aus Angst nicht mehr in die Werkstatt mit der herabhängenden Decke. Wer will schon einziehen in ein Haus, das vielleicht langsam wegbricht? „Das Dorf stirbt aus“, sagt Gisela Peller düster, „die Jugend macht hier weg.“ Früher hätten hier auf der Straße viele Kinder gespielt. „Heute können Sie Kinder hier suchen.“ Im Jahr 1990 hatte Ilberstedt noch mehr als 1.600 Einwohner, heute sind es nur noch knapp 1.200. Im Jahr 1952 waren es noch doppelt so viele gewesen.

Das drückt auf die Stimmung. Die Güstener Pfarrerin Karoline Simmering, in deren Parochialverband auch Ilberstedt liegt, erzählt von einer „diffusen Angst“, die sich nach der Katastrophe von Nachterstedt in Ilberstedt verbreitet habe. Häuser sind hier wichtig, wie häufig auf dem Land: als Symbol der Lebensleistung, Versicherung fürs Alter und Erbe für die Kinder. Wenn nun die Häuser wegzubröseln drohten, so Simmering, führe das bei manchen zu einer „großen Traurigkeit“.

Im Ilberstedter Nachbardorf Cölbigk, berichtet die Pfarrerin, habe ihr jemand mal „in so einer Art Galgenhumor“ gesagt: „Wir sind bald alle überspült.“ Die Angst dahinter: Die Wipper, der örtliche Fluss, könnte aufgrund der Bodenabsenkungen vielleicht bei Bernburg nicht mehr in die Saale abfließen und dann die ganze Gegend überfluten. Auch die Pfarrerin, die erst vor einem Jahr aus Emden kam, kennt den Grund für die Sorge in Ilberstedt ganz gut: „Das sinkt viel schneller ab, als man das ursprünglich befürchtet hatte“, sagt sie nüchtern. Im Pfarrkonvent kam man jüngst überein: Die Kirche könnte sich im Konfliktfall bei Streitereien wegen der Absenkung als Moderatorin anbieten. Geht man aus der Tür ihres Pfarrhauses, stößt man über dem Türstock des alten Nachbarhauses auf den Spruch: „Wer Gott vertraut, hat wohl gebauet.“

Im Gemeindesaal von Ilberstedt versucht Thomas Wolperding ähnliches Vertrauen zu verbreiten. Der Gemeindesaal liegt in einem ehemaligen Schulgebäude und riecht auch 20 Jahre nach Mauerfall – wohl aufgrund des Bodenbelags – immer noch nach DDR. Wolperding ist der stellvertretende Leiter des Werkes Bernburg der european salt company (esco), dem die Kammern unter Ilberstedt gehören. Für den Journalisten aus der Hauptstadt sind neben ihm noch zwei weitere Vertreter von esco und gleich vier der Gemeinde gekommen. Man ist übereingekommen, nur noch zusammen aufzutreten.

28 Zentimeter im Jahr

Zunächst ergeht sich Wolpering mithilfe einer Powerpoint-Präsentation in PR-Sätze wie: „Mit Bodensenkungen bewusst umgehen“ und: „Wir sind im offenen Dialog“. Dann aber redet er schnell Tacheles: Noch 1970 erwartete man, dass sich die Gegend um Ilberstedt um lediglich 5 Zentimeter pro Jahr senken würde – derzeit aber sind es, nach Berechnungen der esco, jährlich 28 Zentimeter. Und: „Die Senkungsgeschwindigkeiten nehmen derzeit zu.“

Im Jahr 2050 dürfte sich das betroffene Areal um bis zu 5 Meter gesenkt haben, erklärt der Ingenieur, der die Produktion unter Tage leitet. Das Salz im Raum Ilberstedt liege in einer Schicht von bis zu 35 Meter Höhe (Mächtigkeit) in der Erdkruste. Durch Bohrungen und Sprengungen wird es abgebaut, „eine Stadt unter der Stadt“ entstehe, „ein Straßensystem“. Wohl auch, weil die Salz-„Stützpfeiler“ zwischen den Kammern Ende der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts verkürzt wurden, komme es nun schneller zu Absenkungen. Und klar ist auch: Diese Absenkungen könnten noch Jahrhunderte weitergehen, erklärt Wolperding. Wie tief, ist kaum zu prognostizieren.

Wer von Absenkungen betroffen ist, dem sichert die esco Entschädigungen zu – für den Gesamtkonzern stehen für solche „bergbauliche Schäden“ 380 Millionen Euro zur Verfügung. Wie viel Geld nach Ilberstedt fließen wird, ist noch unklar. Ein Gutachter war im Dorf unterwegs, Ende des Monats sollen die ersten Gutachten vorliegen. Kleine Schäden würden voraussichtlich mit dreistelligen Summen beglichen, sagt Wolperding, große mit fünfstelligen.

An der Tafel neben den esco-Vertretern hängt eine Grafik des Wohngebietprojekts „Hinter den Gärten“. Lothar Jänsch, Bürgermeister der Gemeinde Ilberstedt, hat die meiste Zeit während der Powerpoint-Präsentation Wolperdings geschwiegen. Am nächsten Tag aber bricht der Frust über die Lage aus ihm regelrecht heraus. Wegen der Absenkungen in seinem Dorf gebe es für dieses Baugebiet „Hinter den Gärten“ seit Jahren „absolut gar keine Nachfrage“, berichtet er – und das, obwohl die Gemeinde seit knapp 15 Jahren dort für Landkauf und die Erschließung des Areals etwa 1,3 Millionen Euro ausgegeben habe. Die Folge: „Wir sind eigentlich zahlungsunfähig.“ Der sich absenkende Boden in Ilberstedt hat die Gemeinde in den Ruin getrieben.

Erich Hahndorf war nach der Wende ein paar Jahre Bürgermeister von Ilberstedt – er kennt die Misere um das Baufeld „Hinter den Gärten“ leider aus dem Effeff. Und auch er ist direkt betroffen von der Absenkung der Breiten Straße, wo er seit 1967 wohnt. Der 71-Jährige hat 70 Jahre seines Lebens in Ilberstedt verbracht, seine Melancholie über die triste Lage versucht er hinter Lakonik zu verbergen. Aber manchmal rutscht ihm eben doch der Frust raus: „Unsere Lebensqualität leidet darunter unwahrscheinlich“, sagt er.

Meterlange Mauerrisse

Im Keller seines Hauses zeigt Hahndorf die Mauerrisse, meterlang. Und sie werden länger und länger. Seit einiger Zeit hat er mit Bleistift die jeweiligen Endpunkte der Risse mit Datum markiert – doch es gibt immer neue Endpunkte, immer neue Daten. „So sieht das denn aus“, sagt er. Das gegenüberliegende Großelternhaus, das Hahndorf vor einigen Jahren geerbt und nun an seine alte Tante vermietet hat, ist am schlimmsten betroffen. Es hat 27 Risse. „Die Häuser fangen an zu reißen“, sagt er, „die Altersvorsorge ist im Eimer.“ Denn: Die Grundstücke verlieren massiv an Wert, erklärt Hahndorf: „Das kauft mir doch keiner mehr ab.“ Auch familiär ist das bitter. Seine Enkel sagten ihm schon: „Bleib mir bloß weg mit deinen Häusern.“ Heimat ist ein Gefühl, kein Gedanke.

Daniela Bauer steht vor ihrem recht neuen Heim am Rand des Bebauungsgebietes, das sich absenkt. Drei einsame Häuser stehen hier. Seit klar ist, dass die Wiese vor der Tür langsam absackt, baut hier niemand mehr. „Wenn man das von Nachterstedt alles hört“, sagt sie, „na klar hat man da Angst.“ Aber in ihren neun Jahren im neuen Haus sei noch nichts passiert, keine Risse, nichts. Sie bleibt gelassen – „weil man immer davon ausgeht, es passiert nichts.“ Der Boden bewegt sich langsam in Ilberstedt.