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Archiv-Artikel

Der Weihnachtsexpress rollt an

TAZ-ADVENTSKALENDER Von Neukölln bis Grunewald: 24 Eindrücke in Bildern entlang der Buslinie M29. Eine Liebeserklärung zum Auftakt

Wir haben ANNETTE HAUSCHILD, Fotografin der Agentur OSTKREUZ, eine Monatskarte spendiert. Bis Weihnachten porträtiert sie Menschen und zeigt Stadtlandschaften entlang der Buslinie M 29.

Von Elisabeth Wirth

Der Metrobus 29 ist die am meisten unterschätzte Buslinie Berlins. Will man die Stadt aber wirklich kennenlernen, nimmt man eben nicht den 100er, der an allen möglichen Sehenswürdigkeiten vorbeiführt, sondern jenen M29. Er verbindet Gegensätze: Schmuddel und Schickeria, Kiez und Kommerz, Müßiggang und Rastlosigkeit, Geschichte und Neuanfänge.

Schwerfällig wie ein Elefant bahnt sich der gelbe Doppeldekker seinen Weg. Von Neukölln über Kreuzberg – wo er die absurdeste Ampel der Stadt passiert, bei der alle Fußgängerübergänge gleichzeitig auf grün schalten – fährt er am Landwehrkanal und den Kurfürstendamm entlang, bis zur Endhaltestelle am beschaulichen Roseneck.

Der M29 besticht nicht immer durch Pünktlichkeit und zuweilen ist die Fahrt – sowohl für Busfahrer als auch Mitreisende – ein ereignisreicher Höllentrip. Der M29 schiebt sich an in zweiter Spur abgestellten Autos, zwängt sich an Baustellen vorbei, passiert Kreisverkehre, Menschenmassen und alltägliches Straßenchaos. Das kommunikative Repertoire der Busfahrer beschränkt sich daher oft auf ein Nicken beim Einsteigen und den Satz: „Jetzt jeh’n Se doch ma aus der Tür, sonst könn’ wa nich weiter fahrn.“ Wenn die Passagiere dann nicht kapieren, was der Busfahrer meint, kommt es schon vor, dass es eine gefühlte Ewigkeit dauert, bis sich der Bus wieder in Bewegung setzt.

Die erste Fahrt mit dem M29, an die ich mich bewusst erinnern kann, liegt etwas mehr als sieben Jahre zurück. Mein Hausarzt hatte bei mir, nach fünf qualvollen Tagen, gerade einen Bandscheibenvorfall diagnostiziert und mich ins Martin-Luther-Krankenhaus überwiesen. Ich fuhr vom Oranienplatz bis zum U-Bahnhof Adenauerplatz. Mir ist jeder Huckel, jede Straßenschwelle, jeder Stopp und jede Anfahrt in Erinnerung geblieben – es war die schmerzhafteste Busfahrt meines Lebens.

Damals habe ich nicht gedacht, dass diese Fahrt der Anfang einer langjährigen Busbeziehung würde. Unzählige Male bin ich seitdem mit der Linie gefahren. Ich zog noch im selben Jahr in den Neuköllner Norden und mein Leben hat sich seither – bis auf eine kurze Unterbrechung – entlang der Linie M29 abgespielt. Besiegelt wurde unsere Verbindung schließlich 2008, als ich begann, das M29-Blog zu schreiben.

Umgebung im Wandel

Zwei Dinge machen eine Fahrt mit dem M29 besonders: das Leben an der Linie und die Menschen, die mit dem Bus fahren. Es sind nicht nur die Museen, Läden, Kaufhäuser, Kneipen, Cafés und Bars, die sich entlang der Linie reihen; erstaunlich ist, wie sich die Umgebung beim Blick durch das Busfenster verändert.

Schon mit den Jahreszeiten wandelt sich die Wahrnehmung: Im Winter taucht man ein in die Tristesse mancher Straßenzüge, bis der Sommer sie wieder verwunschen erscheinen lässt. Vor allem das Straßenbild verändert sich: Nordneukölln hat sich in wenigen Jahren vom Niemandsland zu einer der beliebtesten Gegenden der Stadt gemausert. An kaum einem anderen Ort haben sich so rasant Studenten und Kreative, Cafés, Galerien und Bars angesiedelt. Alte Klischees werden durch neue abgelöst. Den Veränderungen in Neukölln wurde auf der Thielenbrücke jüngst ein Denkmal gesetzt: „So viel Hipster ist nicht zu fassen“.

Auf dem ehemaligen Bolle-Gelände am Görlitzer Bahnhof ragt seit einigen Jahren eine prachtvolle Moschee in die Höhe und am Moritzplatz, wo früher gähnende Leere herrschte, wo man sich keine fünf Minuten aufhalten wollte, wurde eine Brachfläche in einen Garten mit urbaner Landwirtschaft verwandelt und auf einer anderen ist ein Kreativkaufhaus entstanden.

Auch die City West gestaltet sich neu, der Ku’damm ist wieder Prestigemeile, bald eröffnet das Waldorf Astoria im Zoofenster, in der früheren Filmbühne Wien bereitet Apple einen sterilen Flagshipstore vor.

Nicht entlang der Linie, auch im M29 bietet sich ein großartiges Alltagstheater mit ständig wechselnden Protagonisten: Junge, Alte, Verliebte, Verwegene, Mütter und Väter mit redegewandten Kindern, Seebären mit redegewandtem Papagei, Lesende, Musikhörende, am Laptop tippende, Menschen, die zur Arbeit und solche, die zur gleichen Zeit von der Party nach Hause fahren.

Der M29 ist ein Stück wahres Berlin, eine Konstante im ständigen Werden der Stadt. Keine andere Linie bringt so viele Geschichten und Begegnungen hervor, über die es sich zu schreiben lohnt, wie der M29.

Die Autorin bloggt unter blogs.taz.de/m29/