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Archiv-Artikel

Die Frage ist, wer die Leuchttürme baut

ENERGIEWENDE Die Logik des kollektiven Handelns und die Weltklimakonferenz in Doha: Woran liegt die verdammte Unfähigkeit von Politik, zu klaren und verbindlichen Lösungen zu kommen?

Aufgabe für Politiker muss es sein, für das als notwendig Erkannte Mehrheiten zu erkämpfen

VON ROBERT HABECK

Hunger und Dürre in weiten Teilen der Welt, Überschwemmungen und Naturkatastrophen, Konflikte – ausgelöst durch neue Völkerwanderungen und Wasserarmut – sind vorhergesagt. Es ist eine der größten Aufgaben für die Menschheit, den Klimawandel noch irgendwie einzudämmen. Derzeit findet in Doha, der Hauptstadt von Katar, die 18. Sitzung der UN-Klimakonferenz statt. Viele weise Menschen sind ins Morgenland gereist, um über diese Aufgabe zu beraten. Ausgerechnet in Doha, wo 2001 die Welthandelsorganisation versuchte, die Schwierigkeiten der Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt anzugehen – bis heute gibt es keinen Abschlussvertrag –, werden jetzt Umwelt- und Klimapolitiker entscheidende Weichen stellen? Dringend nötig wäre es allemal, aber viel spricht nicht dafür.

Die Klimakrise ist kein isoliertes Phänomen. Sie ist eng mit unserem Rohstoffverbrauch verknüpft, sie hat mit Krieg und Frieden, mit Unterdrückung durch autoritäre Regime, mit dem Kampf um Land und Wasser zu tun. Doha ist die Chiffre für die Frage, ob es durch Marktliberalisierung und Regellosigkeit gelingen kann, die Weltprobleme zu lösen. Wenn ich so frage, dann ist die Antwort impliziert. Und sie ist trivial: Eine nur ökonomische Politik der Welthandelsbeziehungen ist in keiner Weise geeignet, auch nur im Ansatz den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen.

Welche Regeln und Regulierungen nötig wären, ist kein Geheimnis, von der Verteuerung des CO2-Ausstoßes bis zu einer Regulierung der Finanzmärkte. Dass sie nicht Wirklichkeit werden, verrät viel über die wahren Machtverhältnisse auf unserem Globus. Einige haben viel zu verlieren, damit es vielen bessergeht und der Planet wenigstens den Hauch einer Chance hat. Aber auch das ist nicht neu: dass im Kapitalismus das Kapital bestimmt. Erstaunlich nur, dass kaum jemand die ökonomischen Rechnungen selbst zur Kenntnis nimmt: Die UN gehen allein für die Anpassung an den Klimawandel 170 Milliarden Euro aus – und Experten halten das für untertrieben.

Zwar stirbt die Hoffnung zuletzt, aber nach den enttäuschenden Konferenzen der Vergangenheit sind die Erwartungen an Doha gering. Auf der UN-Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 wurde viel geredet, beschlossen wurde nichts. Woran liegt die verdammte Unfähigkeit von Politik, zu klaren und verbindlichen Lösungen zu kommen? Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, als notwendig erkannte Schritte auch zu gehen? Warum kann sich die Menschheit nicht auf das einigen, was gut für sie ist? Kurze und verstörende Antwort: weil es Probleme gibt, die zu groß für sie sind. Das auszusprechen und weiterzudenken führt einen schnell zu grundsätzlichen Zweifeln an der politischen Handlungsfähigkeit und Verfasstheit von Staaten und Gesellschaften – einen Politiker allemal. Und es ist ein ganz anderer Befund, als zu sagen: Weltmächte, Konzerne, Staaten sind schuld. Das sind sie ohne Frage, aber ihre Schuld hat eine tiefer gehende Ursache. Es schreibt den Begründungssatz der Bankenrettung, jenes „Too big to fail“ um: „So big we fail.“

1965 diagnostizierte der US-amerikanische Soziologe Mancur Olsen in der noch heute grandios zu lesenden Studie „Die Logik des kollektiven Handelns“, dass der Nutzen des Einzelnen oft nicht mit den Interessen einer ganzen Gesellschaft zusammengeht. Warum handelt eine Gesellschaft nicht vernünftig, indem sie tut, was sie für richtig und nötig hält?

Olsens Diagnose: Weil es häufig für den einzelnen rational ist, nicht der Rationalität der Gesellschaft zu folgen. Sein Beispiel ist der Reeder, der sich nicht an der Finanzierung eines Leuchtturms beteiligt, obwohl er von ihm profitiert. Aber weil die Küstenbewohner Furcht vor Havarien haben, bauen sie den Leuchtturm auf eigene Kosten.

Der Abstand zu solidarischem Tun wird umso größer, je größer die Organisation ist, die für einen sprechen soll. Das größte Beispiel ist die Demokratie selbst. Die Wahlunlust vieler hängt damit zusammen, dass sie nicht sehen, dass ausgerechnet ihre Stimme einen Unterschied macht. Mangel an Identifikation wegen zu großer Organisationen, Ferne zur eigenen Gegenwart, vor allen Dingen aber eine zu abstrakte Wahrnehmung des Problems, wenn es zu groß wird – das alles führt, so Olsen, zur kollektiven Lähmung, die Gesellschaften daran hindert, das zu tun, was vernünftig wäre.

Warum soll ausgerechnet ich weniger Auto fahren, weniger Fleisch essen oder mehr Ökostrom beziehen, wenn doch China gerade erklärt hat, sein Wirtschaftswachstum verdoppeln zu wollen? Ein Problem, das so groß, so abstrakt und so fern ist, dessen Auswirkungen mit voller Wucht erst meine Kinder oder Enkelkinder treffen, soll mich heute und hier zum Umdenken und zum Verzicht bringen? So zu denken ist verständlich; wer aber danach handelt, beginnt, sich in die Büsche zu schlagen.

Es gibt Beispiele, dass Gesellschaften zu großen Transformationen fähig waren. Olsen selbst nennt als Beispiel die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als alle Strukturen zerstört waren und die Not die Menschen zur Solidarität zwang. In der jüngeren Gegenwart hat der Schock von Fukushima ein Umdenken in der Energiepolitik (in Deutschland, in Japan) ausgelöst. Der Grund ist die Angst vor einer ähnlichen Katastrophe im eigenen Land.

Angst und Besorgnis wären auch im Fall der globalen Erwärmung strategische Alliierte für eine wirksame Klimaschutzpolitik. Bilder von Orkanen, Verwüstungen, Überschwemmungen oder Dürre flimmern über die Bildschirme, sie zeigen direkte Betroffenheit. Beispiel: der Sturm „Sandy“ in den USA, der plötzlich wieder den Klimawandel auf die politische Agenda gesetzt hat. Präsident Barack Obama konnte schon damit punkten, dass er ihn wenigstens nicht leugnet. Aber diese Bilder sind schnell vergessen und müssen immer wieder heraufbeschworen werden. Eine politische Handlungsmaxime aber, die darauf zielt, Vernunft gegen Bilder und Argumente gegen Angstbeschwörung einzutauschen, ist das Mittel von Demagogen.

Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, als notwendig erkannte Schritte auch zu gehen?

Will man nicht auf Angst setzen – wie lässt sich kollektives Handeln dann so beeinflussen, dass sich die Vernunft durchsetzt? Was kann den Einzelnen dazu bewegen, das eigene, unmittelbare Interesse zurückzustellen, um für etwas Übergeordnetes einzutreten?

Eine Antwort ist Identifikation: Der Einzelne muss sich als Teil dieses Übergeordneten empfinden, idealerweise als eine Art Weltbürger. Doch Identifikation bedeutet immer auch Abgrenzung. Das ist Problem und Potenzial zugleich.

Was kann das für die Klimapolitik in Doha bedeuten? Kann sich die Weltgemeinschaft das Muster „Identifikation durch Abgrenzung“ zunutze machen – wenn es doch eigentlich darum geht, dass alle gemeinsam an einem Strang ziehen müssen? Vielleicht ja – durch Konkurrenz um den besten Klimaschutz. So ließe sich das Prinzip des Sitzungsmikados durchbrechen. Es darf nicht mehr gelten: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Sondern: Wer sich zuerst bewegt, hat gewonnen. Es bedarf eines starken Anreizsystems mit Belohnungen, wie es auch der Naturschutzbund fordert. Eine Weltmeisterschaft um den besten Klimaschutz – vielleicht wäre das ein Weg?

Wer angesichts Mancur Olsens Theorie verzagt, sieht nur das Kollektiv. Aber Gesellschaften sind nicht nur anonyme Massen. Einzelne können sich gegen die Mehrheitsmeinung, gegen die Trägheit der Allgemeinheit wenden. Zu erkennen, dass die kollektive Ratio eine andere ist als die individuelle, ist eine Sache. Eine andere ist aber, es stumm zu akzeptieren.

Auch Politiker missverstehen ihre Aufgabe, wenn sie nur Mehrheitsmeinungen akzeptieren. Es ist doch gerade ihre – wie meine – Aufgabe, nicht einfach umzusetzen, was vermeintlich gewollt wird, sondern für das, was sie als richtig erkannt haben, Mehrheiten zu erkämpfen. Die Forderung nach Fortschritt in Doha hat also einen Adressaten: die Politiker. Und so wendet sich Olsens Theorie gegen sich selbst: Den größten Gewinn hat vielleicht der Politiker, der sich gegen den Mainstream der Lähmenden und der Leugnenden wendet. So einer wäre ein Reeder, der einen Leuchtturm baut. Und der Applaus der Küstenbewohner wäre ihm sicher.

■ Der Autor ist Energiewendeminister von Schleswig-Holstein und Mitglied der Grünen