Wochenschnack
:

die tageszeitung | Rudi-Dutschke-Straße 23 | 10969 Berlin | briefe@taz.de | www.taz.de/zeitung

Die Redaktion behält sich Abdruck und Kürzen von LeserInnenbriefen vor.

Die veröffentlichten Briefe geben nicht unbedingt die Meinung der taz wieder.

Eine verlogene Debatte

Anschlag in Berlin Viele PolitikerInnen mahnen zur Besonnenheit, andere fordern noch vor Klärung der Täterschaft eine neue Zuwanderungspolitik

Nach dem Attentat: Breitscheidplatz unweit der Stelle des Anschlags Foto: dpa

Widerlich

betr.: „Die Herausforderung“, taz vom 21. 12. 16

Ich will nicht zynisch Opfer aufrechnen, jedes Leben ist kostbar! Aber die Geistlosigkeit der Reaktionen auf diesen und vergleichbare Anschläge empört mich immer mehr. Nach der üblichen Melodie – wahlweise Schiller, Beethoven oder den Wanderprediger aus Nazareth missbrauchend – gibt die „wehrhafte Demokratie“ bekannt: „Wir lassen uns unser öffentliches Leben – etwa den Besuch auf dem WeihnachtsMarkt oder in der FußballARENA – nicht kaputtmachen.“ Dafür quittieren wir das tausendfache Sterben in Aleppo, die millionenfache Flucht und Vertreibung und jede Schweinerei, die uns mästet, mit einem Achselzucken. Widerlich – dieses saturierte Freiheitsgeschwätz und diese Humanitätsfaselei von uns WohlstandesTerroristen! Als seien immer nur die anderen die Irregeleiteten, vom Wahn Besessenen. RAINER SÖMISCH, Dortmund

Noch viel zu tun

betr.: „Mit Bedrohungen müssen wir leben“ von Bettina Gaus, taz vom 21. 12. 16

Ich kann nicht mit den aktuellen Bedrohungen und dem Berliner Terroranschlag und überall anderswo in der Welt leben. Auch die Empfehlung, einer inneren Gelassenheit zu folgen, ist mir zu wenig und passiv.

Wachsamkeit im Alltag und eine tatsächliche wirksame „Präventionsstrategie“ beinhaltet die „Bündelung“ von technischen, personellen und finanziellen Maßnahmen. Eine effektiv vorbeugende wirksame „Abwehrstrategie“ bedarf jedoch einer „Taskforce“ und eines speziellen Ausbildungs- und Trainingsprogramms. Eine aktive bundesweite, extra dafür ausgebildete Bereitschaftspolizei mit diesen ausschließlichen „Sonderaufgaben“ für Terroreinsätze kann ein wirksamer aktiver Beitrag zum Schutz von Menschenleben sein, damit Gelassenheit als eine Perspektive für eine bessere Zukunft sichtbar werden kann. Es gibt noch viel zu tun.

THOMAS BARTSCH-HAUSCHILD, Hamburg

„Eigentlich“

betr.: „Mit Bedrohungen müssen wir leben“, taz vom 21. 12. 16

Schon auf das erste Wort des Kommentars der geschätzten Autorin wollte ich „eigentlich“ verzichten.

Jede/r Ermordete/r in Berlin, Nizza, Aleppo – überall – ist ein Mensch, Angehörige, Freunde/innen, alle die berührt sind, sind tatsächlich angegriffen. Das Lebensgefühl vieler Leute verändert sich, was wohl auch der Absicht der Mörder entspricht. Daher hat die Gesellschaft jedes Recht, „prinzipiell Neues“ zu erfahren. Die gewählten Politiker sind ihren Wählern/innen verpflichtet. Über die gefühlte Sicherheit hinaus ist – unter Beachtung aller Risiken, Grenzen und Möglichkeiten – ein ständiger Zugewinn an Sicherheit zu entwickeln und durchzusetzen.

Das Beispiel des „eifersüchtigen Ehemannes“ aus der „Institution Ehe“ ist fehl am Platz. Angebrachter ist zum Beispiel, auf die seit Jahrzehnten verbesserte Sicherheit im Straßenverkehr mit immer weniger Verkehrstoten hinzuweisen, selbst wenn bis heute „das Risiko weit höher ist, bei einem Verkehrsunfall zu sterben“. Allein „Gelassenheit“ reduziert Verbesserungsmöglichkeiten.

Neben der tatsächlichen Umsetzung vorhandener rechtskonformer Möglichkeiten ist auch das facettenreiche Umfeld – beginnend bei Wortwahl und der Auswahl der gefragten „Experten“ in der Berichterstattung über die Morde – zu betrachten. Im Übrigen wurden Menschen ermordet, verletzt, vielleicht traumatisiert und die Täter/innen sind unabhängig von ihrer kulturellen, religiösen, nationalen Herkunft im Rahmen der rechtsstaatlichen Möglichkeiten zu belangen.

ROLF SCHEYER, Köln

3.300 Tote pro Jahr

betr.: „Brauchen wir mehr Überwachung?“, taz vom 22. 12. 16

Sind 3.300 Tote und unglaubliche 390.000 Schwerverletzte im letzten Jahr in Deutschland kein Grund zum sofortigen Handeln? Scheinbar nicht.

Die Täter waren überwiegend Deutsche, aber auch Menschen aus dem Ausland. Gab es einen Aufschrei? Nein. Gab es Forderungen, diesen Blutzoll umgehend und dauerhaft zu beenden? Nein. Aber das war ja auch nur der angeblich normale Straßenverkehr und auch da waren schwere Lkws mit beteiligt.

Was für eine verlogene Debatte. Statt effizient zu handeln, dann doch lieber der Versuch, den Souverän zu überwachen. Wenn es wirklich um Sicherheit und die Abwehr von Gefahren ginge, kann die Regierung zusammen mit der Opposition sofort handeln: Tempolimits, deutlich höhere Bußgelder für zu hohe Geschwindigkeit und für Alkohol am Steuer sind nur zwei absolut sinnvolle Maßnahmen. Das ist in der gesamten restlichen Welt längst und erfolgreich Standard.

Dazu müsste man sich mit der Autoindustrie, dem unsäglichen ADAC sowie den überwiegend männlichen, saufenden Autofahrern anlegen. Und Raserei von subventionierten Firmenwagenfahrern angreifen. Das erfordert Mut und Durchhaltevermögen.

Da ist es natürlich sehr viel leichter, auf Flüchtlingen rumzutrampeln, denn die sind per Definition nicht deutsch. Kameras überall als Heilmittel simuliert Handeln, doch für die Vermeidung von 3.300 Toten pro Jahr rührt dann keine Partei auch nur einen Finger.

UWE BARKOW, Frankfurt am Main

Relativierungl

betr.: „verboten“,taz vom 22. 12. 16

Ich bin mir auch nach mehrmaliger Lektüre Ihrer heutigen verboten-Kolumne nicht sicher, was Sie meinen, wenn Sie fragen, was das Hauptproblem der Debatte um den Berlin-Attentäter sein soll: „Darin, dass der Mann nicht rechtzeitig abgeschoben wurde oder dass ihm überhaupt eine Abschiebung drohte?“

Nachdem gestern bereits in einem Kommentar ein Vergleich zwischen der Gefahr von Autos im Straßenverkehr mit der allgemeinen Terrorgefahr gezogen wurde, bin ich fassungslos über die dahintersteckende Naivität, die Sie bei allem verständlichen Willen zur Relativierung damit demonstrieren.

RAINER SCHLITT, Trier

Gehässiger Streit

betr.: „Mit Bedrohungen müssen wir leben“, taz vom 21. 12. 16

Zu selten werden in diesen terror-aufgeregten Zeiten auf weit größere Bedrohungen hingewiesen, denen wir alle tagtäglich ausgesetzt sind. Bettina Gaus tut dies am Ende ihrer Ausführungen, aber auch nur andeutungsweise.

Man stelle sich nur mal vor: Im September dieses Jahres sind 322 Menschen durch den Verkehr auf unseren Straßen zu Tode gekommen, der Jahresdurchschnitt liegt bei mindesten 9 Toten an jedem Tag. Und man stelle sich die ungeheure Zahl der Verletzten vor, von denen viele zeitlebens Beschwerden und Behinderungen zu ertragen haben. Warum werden nicht viel mehr Maßnahmen durchgesetzt, mit denen es zu mehr Verkehrssicherheit kommen würde? Warum müssen wir mit dieser Bedrohung leben? Müssten wir nicht jeden Abend dieser Toten und Verletzten und deren Angehöriger genauso gedenken, wie wir es für die durch einen Terroranschlag Getöteten tun?

Stattdessen immer wieder dieser gehässige Streit über den richtigen Umgang mit den Flüchtlingen.

DAGMAR REEMTSMA, Hamburg