piwik no script img

Der Wolf in Niedersachsen ruft mehr Gefühle hervor als die Toten in AleppoStarke und Schwache

Foto: Lou Probsthayn

Fremd und befremdlich

KATRIN SEDDIG

Das Jahr geht zu Ende und in der Welt knirscht und knackt es. Aber die Welt interessiert die Leute gar nicht so sehr, vielmehr empören sich die Menschen über Dinge, die sich jedenfalls so anfühlen, als beträfen sie sie persönlich. Der Wolf in Niedersachsen ruft mehr Gefühle hervor als die Toten in Aleppo. Der Wolf in Niedersachsen wird sicherlich bald ein Rotkäppchen verspeisen und darauf hofft der Regionalseitenkommentator, denn er möchte es dem Wolfskuschler mal so richtig zeigen.

Der Wolfskuschler ist übrigens ein Freund vom Willkommensklatscher. Die Zeiten sind jetzt so, dass Menschen verschiedener Ansichten sich unversöhnlich hasserfüllt gegenüberstehen, vielleicht waren sie es auch schon immer? Ein Wolf, oder zwei, sind im Landkreis Uelzen in ein Gehege mit Damwild gesprungen und haben das ganze Damwild totgemacht. So was tun Wölfe anscheinend, Hirsche umbringen. Als Tierfreund sage ich: Ja nun, der Damwildhalter hat mit diesen Tieren letztendlich auch nichts anderes vorgehabt, als sie umzubringen.

Damwild ist in Niedersachsen erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt worden, von Jägern, wozu wohl? Aber so hämisch bin ich gar nicht. Es ist mir auch möglich, daran zu denken, dass der Damwildbesitzer investiert, dass er gearbeitet und jetzt einen Verlust erlitten hat. Vielleicht hat er sogar an den Tieren gehangen, Menschen, die mit Tieren zu tun haben, die entwickeln manchmal Gefühle für diese Tiere, selbst wenn sie sie demnächst umbringen wollen. Ich kann also Mitgefühl mit einem Damwildhalter empfinden, Verständnis für seine Situation aufbringen, obwohl ich meinungsmäßig so etwas wie eine Wolfskuschlerin bin.

Ich kann seine Damwildhaltung für falsch halten und ihn trotzdem sogar mögen. Ich kann sogar, als Wolfskuschlerin, Angst vor einem Wolf haben. Ich kann alles gleichzeitig. In der öffentlichen Diskussion gibt es solche ambivalenten Haltungen nicht. Es gibt nur sehr viel hasserfüllte Häme. Besonders Menschen, die sich für etwas einsetzen, werden damit überschüttet.

Menschen, die gegen etwas sind, haben es leichter. Menschen, die gar echte moralische Gründe für ihre Haltung angeben, werden lächerlich gemacht. Es wird ihnen vorgeworfen, nicht realistisch zu sein. Es läuft ungefähr darauf hinaus: Die Welt steht auf materiellen Pfeilern. Der Stärkere überlebt. Wenn du dich für Schwache einsetzt, handelst du gegen dieses Prinzip. Du bist ein Dummkopf (nicht realistisch). Argumentiert wird aber nicht so. Argumentiert wird emotional, scheinbar moralisch.

Es werden Schwache als Argument präsentiert, am besten gehen Kinder. Es wird gehofft, dass der Wolf, zum Beispiel, mal ein Kind frisst, weil man ungern zugibt, dass man materielle Interessen hat. Dasselbe Argument zieht übrigens im Straßenverkehr nicht. Kinder werden halt mal überfahren. Deswegen würde keiner aufhören, Auto zu fahren. Oder fordern, alle Autofahrer zu erschießen.

Die Sache ist die, wir kennen selten die einzelne Situation. Wir wissen tatsächlich nicht, wie es sich anfühlt, eine Herde zu verlieren, die man als Teil seiner Arbeitswelt hegt. Wir wissen auch nicht, wie es ist, ein Tier zu sein, wir wissen nicht, wie es sich auf unsere Welt auswirkt, wenn wir immer mehr Tierarten aus ihr verbannen. Wir wissen einfach kaum etwas, wir sind alle zusammen ziemlich dumm. Und aus dieser Position heraus sollten wir fragen, fragen, fragen. Dann zuhören. Dann wieder fragen.

Wir sollten nicht glauben, dass wir, nur wir allein, im Besitz der Wahrheit sind. Und wir sollten nicht schon zu hassen anfangen, wenn einer eine andere Sicht hat als wir selbst. Das wär doch was für Weihnachten.

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Eine Nacht und alles“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen