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Märchenstadt Berlin?

Schlösser, Schildkröten und Hans-Joachim

Fotos: Christina Mikalo

Mitten in Berlin, da steht ein Schloss. Märchenhaft sieht es nicht gerade aus. Eisengerüste verdecken die Fassade. Man muss sich schon seinen Weg zwischen diese Stelen bahnen, um auf Fotos in einer Ausstellung zu erfahren, dass die Fassade wohl eher so barock aussehen soll. Statt herrschaftlichen Türmen ragen sperrige Kräne in die Höhe. Wo soll denn hier Rapunzel ihr Haar herunterlassen? Machen wir es kurz: Das Schloss – oder vielmehr die Schlossbaustelle – ist hässlich. Finden wir woanders etwas Märchenhaftes? Drachen? Sprechende Hunde? Wenigstens einen König? In Berlin gibt es ja noch ein zweites Schloss. Es heißt Bellevue. Man sagt, der König von Deutschland lebt hier. Mal gucken, ob er uns zu einer Audienz empfängt. Fehlanzeige: Vor den imposanten Pforten macht uns die Schlosswache einen Strich durch die Rechnung: „Einen König gibt es hier nicht.“ Hm? Die Schlosswache möchte uns vielleicht zum Narren halten? Wir fragen einen Mann aus dem einfachen Volk. Er heißt Hans-Joachim und ist pensionierter Richter. Aber auch Hans-Joachim weiß nichts von einem König: „Diese Stadt ist nicht zauberhaft. Alles ist hier grau in grau.“ Na gut, Hans-Joachim. Aber so leicht lassen wir uns nicht entmutigen. Nächste Station: der Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain. Der Name klingt sehr vielversprechend. Doch dort angekommen, erleben wir die nächste Enttäuschung. „Der heißt Märchenbrunnen? Warum das?“, wundert sich ein Tourist. Tatsächlich bleibt der Zauber des Ortes im wahrsten Sinne des Wortes verborgen. Aschenputtel, Rotkäppchen, der Gestiefelte Kater und die anderen Grimm’schen Figuren werden im Winter vor der Kälte geschützt – statt Steinfiguren bekommen wir klobige, mit Graffiti beschmierte Holzkisten zu Gesicht. Bloß eine Schildkröte war es offenbar nicht wert, verpackt zu werden. Als Trost setzen wir ihr eine Papierkrone auf. Inzwischen ist uns kalt. Wir müssen irgendwo rein. Irgendwo, wo es warmen Zaubertrank oder wenigstens Magic Drachenblut gibt. Hui, da ist sie ja schon, die „Fairytale“-Bar. Aber – oh weh – die öffnet erst abends. Berlin, warum versteckst du denn deine Märchen alle hinter Schloss und Riegel, Türen und Kisten? Fragen wir noch ein paar Untertanen aus dem Fußvolk. „In dieser Stadt sind nur die Preise märchenhaft!“, ruft uns ein Passant zu. Aha. Preise! Also gehen wir shoppen. Mit der U-Bahn fahren wir zur Haltestelle Prinzenstraße. Auf tristem Asphalt laufen wir an royalen Stätten vorbei: ein „Prinzen-Casino“, eine „Prinzen-Apotheke“, ein „Prinzen-Spätkauf“ – eines skurriler als das andere. Wer will hier einkaufen? Zumindest kein echter Prinz. Den echten Prinzen haben wir sowieso knapp verpasst: Namensgeber Wilhelm, Deutschlands erster Kaiser, starb 1888. Es reicht. Schluss mit dem Märchenprinzen. Auf zu den Damen! Der Genderwechsel geht in Berlin sehr leicht: Gleich hinter der Prinzen- liegt die Prinzessinnenstraße. Berlin, Berlin, du listiges Märchenpflaster! Die Prinzessinnenstraße führt uns zum Prinzessinnengarten. Tatsächlich residieren hier sogar Königinnen mit ihren Untertanen – Bienen. Im Sommer pflanzen hier Ehrenamtliche Kräuter und Gemüse an. Dann, so sagt man uns, erwacht der Garten aus seinem Dornröschenschlaf. Wer’s glaubt! Momentan ist weder von menschlichen noch tierischen fleißigen Bienchen eine Spur zu sehen. Der Tag neigt sich dem Ende. Viel Zeit für unsere Märchensuche bleibt nicht mehr. Mal überlegen … Wem verdanken wir eigentlich die Märchen unserer Kindheit? Waren das nicht die Grimms? Laut Google haben die ihre letzten Lebensjahre in Berlin verbracht. Und sie liegen hier begraben, auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. Nichts wie hin. Durch ein von Efeu überwuchertes Tor betreten wir den letzten Ruheort der bekanntesten Märchenerzähler der westlichen Welt. Trotz ihrer Prominenz sind ihre Gräber schlicht: Weiße Schrift auf schwarzem Granit. Ein paar Kastanien liegen auf den Granitblöcken, darunter der Brief einer Schulklasse: „1.000 Dank für viele schöne Märchen und Geschichten“. An diesem mystischen Ort endet unsere Reise. Nach einem langen Tag stellen wir fest: Genau wie bei den BerlinerInnen, zeigt sich auch die märchenhafte Seite dieser Stadt erst auf den zweiten Blick. Und dazu muss man manchmal eben erst mal zu den Toten gehen.

Milena Österreicher, Christina Mikalo, Marina Berhorn

de Pinho und

Marie Charleen Krebs

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