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Töte nicht die Nachtigall

Kunst Mit der programmatischen Schau „The Red Gaze“ eröffnet die Istanbuler Galerie Zilberman ihre Berliner Dependance. Gezeigt werden historische und aktuelle Arbeiten mit Bezug zu Krieg und Flucht

von Ingo Arend

Ein hageres Gesicht, die Augen vor Entsetzen aufgerissen, die Lippen schmal zusammengekniffen. Ungefähr so könnte der österreichische Komponist Arnold Schönberg ausgesehen haben, als er sich 1933 entschloss, aus seinem damaligen Exil in Frankreich in die USA zu emigrieren. Europa fiel an den Faschismus; Juden, Linke, Akademiker, Künstler machten sich auf die Flucht. Das Entsetzen über die dramatische politische Lage ist Schönberg wie im Gesicht geschrieben.

Der Künstler als Zeuge. Kaum ein Werk könnte die Idee der Ausstellung „Red Gaze“ deutlicher visualisieren als das ungelenke Selbstporträt, das der 1951 in Los Angeles gestorbene Künstler 1944 selbst schuf. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Themenausstellung der Galerie Zilberman. Zur Eröffnung ihrer Dependance an der Spree wollte das Istanbuler Haus ein programmatisches Zeichen setzen. „In Zeiten wie diesen“, erklärt Besitzer Moiz Zilberman, „wollen wir mehr machen als nur normales Galerieprogramm.“ Zur Ausstellung gibt es auch ein umfangreiches Rahmenprogramm.

Überzeitlicher Ausdruck

Ihren Titel bezieht die Schau von einem früheren, expressionistischen Selbstporträt Schönbergs aus dem Jahr 1910, dessen rot glühende Schatten über den Augen schon den Gedanken einer überzeitlichen Ausdruckskraft und der Bedeutung von Blickregimen ventilierten. Kuratorin Shulamith Coruh ist es gelungen, einen mit 14 Arbeiten zwar kleinen, aber hochrangig bestückten Parcours aus Bild, Schrift, Skulptur, Video und Audio zu inszenieren, der die Warburg’sche Idee von der „Pathosformel“ variiert: einer universell gültigen, diachron wiederkehrenden Formensprache. Die Mimik des leidenden Zeugen lässt sich von dem schmerzensreich gekrümmten „Torso eines Cristo Vivo“ aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus Flandern über Schönbergs Porträt bis zu dem „Standing Man“ von Erdem Gündüz verfolgen. Im Juni 2013 stand der, während des Aufstands am Gezipark, acht Stunden auf dem Istanbuler Taksim-Platz – den Blick starr auf das Atatürk-Kulturzentrum gerichtet. In einer Audiodatei ist die Stimme des Künstlers zu vernehmen.

Es dürfte kein Zufall sein, dass eine Istanbuler Galerie das Thema von Kunst, Zeugenschaft und Widerstand zur Debatte stellt. In der Randlage des saturierten Berliner Westens entfaltet sie in Wilmersdorf ihre besondere Kontrastwirkung. Angesichts der zugespitzten Weltlage kann sich der Betrachter dem moralischen Druck der Idee, der Exponate und der Künstlerhaltungen auch nur schwer entziehen.

„As long as wars are still being waged in the name of religion, artists cannot keep quiet about it“, hat die türkische Künstlerin Şükran Moral auf die Wand geschrieben. Sich selbst hat die Altmeisterin der politischen Provokation auf der Wand gegenüber als Vogel im Käfig dargestellt, der das Blut vom Kopf strömt: „Don’t kill the Nightingale“ hat sie die Zeichnung genannt. Überall waltet heiliger Ernst. Zudem ist die Ausstellung der 2015 einer AKP-Kampagne zum Opfer gefallenen Kunstbiennale im türkischen Çanakkalean den Dardanellen gewidmet.

Tückische Zuweisung

Die Rollenzuweisung, auf die die Schau hinauswill, hat freilich ihre Tücken. Der Zeuge ist nämlich zur Wahrheit verpflichtet. Welch grausige Züge das annehmen kann, zeigt Erkan Özgens Video „Wonderland“. Darauf erzählt der 13-jährige Muhammad, ein taubstummes Kind aus einem syrischen Dorf, pantomimisch nach, wie er Zeuge wurde, als seine Familie ermordet wurde – das Abschlagen der Köpfe seiner Cousins und das Aushöhlen ihrer Augen inklusive. Künstler jedoch sind zur Fiktion verpflichtet. Nur wenigen gelingt es, das Reale des Entsetzens so zu verschlüsseln wie dem pakistanischen Künstler Imran Qureishi. In seinen Gouachen „Blessings Upon the Land of my Love“ deuten Flecken auf roter Wasserfarbe in einem Haus ohne Dach die Tragödie nur an, die sich hier abgespielt haben könnte. Die schmerzhafte Ambivalenz der Zeugenrolle hat der Türke Mehmet Erdener alias Extramücadele in ein Kunstwerk gegossen, das beim bloßen Anschauen Scherzen bereitet. Auf einem weißen Sockel hat er eine schwarze Brille gelegt, dessen Gläser aus zwei spitz auf den Betrachter zulaufenden Blechtrichtern bestehen. „The Truth and the Public“ hat Erdener die Arbeit nicht umsonst genannt.

Bis 23. Dezember. Am 17. Dezember findet um 19. 30 Uhr ein Gespräch mit der Künstlerin Ramesch Daha, Bettina Klein vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD und Shulamit Bruckstein Çoruh statt. Zilberman Galerie, Goethestraße 82, Wilmersdorf

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