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Genieße die Entfremdung

Performance Vorsicht! Dieses Theater kann ihr Bewusstsein verändern und vielleicht auch ihren Körper. Auf dem Freischwimmer Festival in den Sophiensælen begibt man sich in Coaching-Hände

von Katrin Bettina Müller

Es geht um verdammt viel in den „Leopardenmorden“. Um die Verkettung von Geschichte und Biografie, um Kolonialismus und Nationalsozialismus, um Wutbürger und neue Rechte. Am Ende ihrer Performance haben sich Timo Krstin und Liliane Koch zwar in ein wirres Knäuel aus Ideologie und Vererbungslehre hineingewickelt, das dann doch zu dick aufgetragen wirkt. Als ob sich der Glaube an Verschwörungstheorien genauso vererbe wie blonde Haare. Aber bis dahin war ihre Erzählung über einen faschistischen Großvater und wie sein Enkel, den Timo Krstin spielt, die eigene politische Biografie an ihm ausrichtet, fesselnd.

Timo Krstin (Regie) und Liliane Koch (Dramaturgie) gehören zu dem Künstler_innenkollektiv K.U.R.S.K. aus Zürich. Die „Leopardenmorde“, aufgeführt in den Sophiensælen, sind Teil des Freischwimmer-Pakets. Fünf Inszenierungen touren durch sechs koproduzierende Häuser, darunter Gessner­allee Zürich, der Mousonturm in Frankfurt, das FFT in Düsseldorf und weitere Netzpartner. Das verschafft den Performance-Projekten eine breitere Sichtbarkeit.

Dubiose Quellen

Der Ansatz der „Leopardenmorde“ erinnert an das politische Theater von Milo Rau. Recherchiertes Material ist der Ausgangspunkt. Entdeckungen auf einem Familiendachboden und Recherchen im Internet, die auch zu dubiosen Quellen führen, werden ausgebreitet. Die Sachlichkeit des Gestus verschleiert dabei, ab welchem Punkt die Fiktionalisierung einsetzt.

Die Verbindungslinien, die in der Geschichte des Großvaters zwischen Kolonialismus und Faschismus gezogen werden, sind zwar bekannt, werden in der Form der Erzählung, des langsamen Freilegens der überdeckten Vergangenheit, aber wieder interessant. Der Großvater, der als Abenteurer und Sisalfarmer in Tansania war, bevor er in der SS aufstieg, legt in der Nachkriegszeit noch eine Karriere hin, diesmal in der DFU, als friedensbewegter Redner. Wie sich diese Geschichten verknüpfen, ist der beste Teil der Performance.

Am Dienstag lief sie als dritter Teil eines langen Abends, der sehr sanft begonnen hatte. Den Anfang machte „Love Fiction“ vom Kollektiv Rylon, einer jungen, deutsch- und englischsprachigen Gruppe, die das Publikum als Teilnehmer eines Coachingprogramms adressierte. Wer teilnehmen will, muss die Schuhe ausziehen und ihnen in aufblasbare Plastikblasen folgen, auf dem Fußboden im Kreis sitzen und sich Gedanken über seine Beziehungsprobleme machen. Die meisten Zuschauer waren jung, bereitwillig und gelenkig.

Die Sprache der Coaching-Truppe in pastellfarbenen Hemden und Hosen ist gespickt mit Versprechungen. ­Identitätswechsel leicht gemacht, halte dein Geschlecht fluide, löse dich von verengenden Strukturen, alles annonciert in einer mit vielen Anglizismen und von technischen Begriffen durchschossenen Sprache.

Man ahnt die schicken Theorien dahinter, während man „postpornografische“ Praktiken übt, wie das Überlassen der eigenen Hand zum Streicheln eines fremden Körpers. Slogans werden im Chor eingeübt und auf Smartphone aufgenommen: „Unsere Liebe wird nicht unmöglich sein“ und „enjoy alienation“. Da sitzt man schon im kleinen Kreis im Change-Programm, grinst sich an, folgt Diagrammen, die auch die Beziehung zu Gegenständen als beziehungsrelevant einstufen, und sieht eine zweite Gruppe derweil durch eine schmale Öffnung kriechen. Zurück in den Uterus, so sieht das aus.

Eigentlich kann man diese liebliche Liegelandschaft, diese Hilfestellung zum neuen Persönlichkeits- und Sexualitätsdesign aber auch als eine totalitäre Fantasie begreifen. Man bewegt sich nicht nur körperlich in einer Blase, sondern auch mental. Obwohl ständig an Erweiterung gearbeitet wird, von Erkenntnis über das eigene Selbst, von theoretisch Vorstellbarem und praktisch zu Erfahrendem, ist man zugleich in einer watteweichen Welt gefangen, die ständig an der Verwischung zwischen realen Körpern und gescreenten herumschraubt.

Gehirnwäsche ist ein altmodisches Wort, es passt nicht zum Sprachgebrauch von „Love Fiction“ oder den „Leopardenmorden“. Dennoch erzählen beide Stücke von einem starken Zugriff auf die Gedanken, ihre Muster und ihre Weitergabe. Und davon, wie sich der Zugriff tarnt. Das macht das Freischwimmer-Programm interessant.

Freischwimmer in den Sophien­sælen bis 19. November

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