Strukturen der Wirklichkeit

Werkschau Ritwik Ghatak ist der große Unbekannten des unabhängigen indischen Kinos des 20. Jahrhunderts

Gerade Supriya Choudhurys Verkörperung der Neeta macht „Meghe Dhaka Tara – Der verborgene Stern“ (1960) zu einem Meisterwerk Foto: Arsenal

von Fabian Tietke

„Film ist im Grunde genommen eine persönliche Aussage. Alle Künste sind es letztlich. Und Film scheint eine Kunst zu sein. Nur ist Film eben eine kollektive Kunst. Man braucht viele und unterschiedliche Talente dafür.“ Dem indischen Regisseur Ritwik Ghatak ist es in den knapp dreißig Jahren seiner Arbeit zwischen 1950 und 1974 immer wieder gelungen, die notwendigen Talente zusammenzubringen.

„Der Film und ich“ von 1963, der Aufsatz, aus dem das Zitat stammt, ist nur einer von einer ganzen Reihe von schriftlichen Selbstbefragungen, die Ghataks Arbeit als Regisseur begleiteten. Von den acht Spielfilmen, die Ghatak fertigstellen konnte, zeigt das Arsenal nun sechs in einer kleinen, äußerst sehenswerten Werkschau.

An Ghataks Filmen wird oft gelobt, dass sie einen genauen Blick für die soziale Realität hätten. Schon seine ersten Filme machen klar, dass Ghatak in seinen Filmen weit mehr tut: Ausgehend von einem achtsamen Blick für die soziale Realität Indiens fügt er Elemente dieser Realität zu Bildern und Erzählungen, die die zugrunde liegenden Strukturen und Prozesse sichtbar machen.

Ghataks zweite Regiearbeit, „Ajantrik“, die 1959 auf dem Filmfest in Venedig lief, kreist um den eigenwilligen Taxifahrer Bimal und dessen Auto. Bimal hegt und pflegt seinen Chevrolet aus den 1920er Jahren, den er Jagaddal getauft hat, und duldet stoisch den Spott seiner Kollegen mit ihren modisch stromlinienförmigen Autos. Bimals Taxi ist diesem zugleich Produktionsmittel und Familie, ihre Beziehung gibt im Kontrast zu ihrer Umgebung einen Einblick in die Modernisierung Indiens im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit.

Im Zentrum von „Meghe dhaka tara“ (Der verborgene Stern) von 1960 steht die junge Frau Neeta, Tochter einer aus Ostpakistan nach Kolkata geflohenen bengalischen Familie.

Neeta ist die Schlichterin in allen sozialen und familiären Konflikten: Sie unterstützt ihren Bruder, der Sänger werden will, gegen alle Zweifel der Familie. Sie verzichtet unablässig – zugunsten ihres Vaters, ihres Verlobten und ihrer Familie. Die Eleganz der Bilder, die kluge Tonspur, Supriya Choudhurys Verkörperung der Neeta machen „Der verborgene Stern“ zu Ghataks Meisterwerk.

In keinem seiner anderen Filme ist ihm gelungen, die Kritik an den konservativen Säulen der indischen Gesellschaft und allen voran der Familie so prägnant mit einer Darstellung der (weiblichen) Opfer der Modernisierung zu verbinden. „Der verborgene Stern“ ist ein erschütternder Film, doch nicht wegen irgendwelcher pathetischer Effekte, sondern wegen seines erhellenden Blicks auf die Strukturen der Wirklichkeit.

„Ajantrik“ erzählt von der Modernisierung Indiens nach der Unabhängigkeit

Ghataks letzter Film, „Jukti takko aar gappo“ (Einsicht, Streit und eine Geschichte), von 1974 hingegen erscheint ein letzter Aufschrei im Inbegriff des Scheiterns. Der Film erzählt eine deutlich von Ghataks Autobiografie inspirierte Geschichte: Nilkantha Bagchi, ein alkoholkranker Intellektueller (gespielt von Ghatak selbst), wird von seiner Familie verlassen, aus der Wohnung geworfen und beginnt schließlich gemeinsam mit seinem Sohn in Kolkata umherzuziehen. Auf seinem Weg trifft er weitere Außenseiter der Gesellschaft: eine junge Mutter, die aus Bangladesch geflohen ist und auf der Suche ist nach Zuflucht; den ehemaligen Lehrer Jagannath Bhattacharjee, der auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gekommen ist. Auf ihrem Weg begegnen die vier ehemaligen Weggefährten des Intellektuellen. In der losen Struktur des Films zeigt sich in den Szenen der Begegnungen, den Auftritten und Abgängen, immer wieder die Vergangenheit Ghataks, der vor seiner Arbeit mit dem Film Theaterstücke geschrieben und inszeniert hat.

Ghataks letzter Film ist eine deprimierende Lebensbilanz, darin nicht ganz unähnlich dem letzten Film, in dem der indische Regisseur Guru Dutt 1959 die Bilanz seiner Arbeit als Regisseur zog. Dutts „Kaagaz ke phool“ (Papierblumen) ist einer der niederschmetterndsten und zugleich schönsten Filme der Filmgeschichte.

Dass Ghatak mit seiner negativen Lebensbilanz im indischen Kino in bester Gesellschaft ist, ist erhellend für die Bedingungen, unter denen Ghatak, Satyajit Ray und Mrinal Sen dem indischen Kino ein Kino jenseits des Warendaseins abgetrotzt haben. Das Kino, das ihnen trotz dieser Widrigkeiten gelang, ist heute noch umwerfend.

Filmreihe Ritwik Ghatak, 8–23. 11., Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, arsenal-berlin.de