: „Dit brauch ick, um zu leben“
FUSSBALL 11.000 Unioner begleiten ihr Team zum Pokalspiel nach Dortmund, davon einige Hundert in drei Partyzügen. Die Stimmung ist bombig, auch dank reichlich „Berliner Luft“. Und die taz mittenmang
von Gunnar Leue
Lichtenberg, Mittwochmittag, kurz nach zwölf. Auf dem Bahnsteig steht der Zug nach Dortmund bereit. „Wo ist der Frauen-Waggon?“, ruft jemand. Es klingt eher fröhlich als peinlich, wenn nicht sogar selbstironisch. So viel ist natürlich auch dem Rufer klar: Hier und heute ist nix mit Frauen-Waggon. Der ganze Zug ist voller Männer, schätzungsweise 95 Prozent. An Gemütlichkeit soll es deshalb nicht fehlen. Die Herrschaften, jüngere wir ältere, schmücken den Zug mit rot-weißen Fahnen und vereinzelt sogar mit Papiergirlanden im Sechserabteil. Vor allem aber wird Proviant ausgepackt: Bier, Wein, Cola mit Schuss, Kartoffelsalat, Bouletten. Wobei der Alk eindeutig überwiegt, denn der Zug ist ein Partyzug. Zu ihm gehören auch zwei Partywaggons mit Tresen, Tanzfläche und DJ.
Genauer gesagt ist es der Partyzug 3, der wie Partyzug 1 und 2 fast 900 Union-Fans zum DFB-Pokalspiel nach Dortmund bringen soll. Es ist für die Unioner, egal wie die Saison noch enden kann, das Spiel des Jahres. Noch nie sind so viele Fans – 11.000, inklusive aller Klubmitarbeiter – zu einer Auswärtspartie mitgereist. Denn das Dortmunder Stadion, von den Engländern zum tollsten Europas gekürt, ist das Traumziel jedes ehrbaren Fußballfans.
Die „Gelbe Wand“, wie die Südtribüne mit 25.000 schwarz-gelben BVB-Fans genannt wird, spielt dabei für die Union-Fans noch eine besondere Rolle. Da geht es auch um eine Art Wettstreit, Legende gegen Legende, wenn man so will. Die Unioner sind stolz darauf, sich zu einem der stimmungsvollsten Fankollektive im deutschen Vereinsfußball hochgeackert zu haben. Da will man doch mal sehen, ob man das nicht auch auf der größten deutschen Fußballbühne (80.000 Zuschauer) beweisen kann.
„Keine Wand ist unbezwingbar“, lautet denn auch das offizielle Motto der Köpenicker für ihren Trip nach Westen. Die Sonderzüge hat der Fanclub Eiserner VIRUS e. V. organisiert, 70 Euro kostet die Hin- und Rückfahrt. „Der erste Zug war nach 24 Minuten ausgebucht“, sagt VIRUS-Vorstand Sven Mühle, „da mussten wir einfach was draufsetzen. Aber einfach zu organisieren war das echt nicht: Privatanbieter suchen, mit der Firma ‚DB Netz’ und der Polizei alles abstimmen.“
In seiner 50-jährigen Vereinsgeschichte sind noch nie so viele Fans des 1. FC Union Berlin zu einem Auswärtsspiel mitgereist: 11.000. Sie erlebten in der DFB-Pokal-Partie gegen Borussia Dortmund ein 1:1 nach Verlängerung. Nach einem 0:3 im anschließenden Elfmeterschießen ist Union aus dem Pokal ausgeschieden (in der nächsten Runde kann es Hertha besser machen).
Alle Konzentration richtet sich bei den Eisernen nun auf die Zweite Liga, wo sie derzeit auf dem zweiten Platz liegen und im Kampf um den Aufstieg weiter eine Rolle spielen wollen. (leue)
Sven Mühle kann sich noch gut erinnern, wie sie vor 15 Jahren auf die Idee kamen. Damals hatten sie von einem Technoparty-Zug in der Schweiz gehört und sich gedacht, so was Ähnliches könnte man ja auch zu besonderen Auswärtsspielen fern von Köpenick veranstalten. Seither gehen jedes Jahr einer, höchstens zwei Partyzüge auf Reisen, mit eigenen Union-Ordnern, Tresenkräften und DJs.
Während in Partyzug 2 Wumme auflegt, der noch nicht so alte Stadionbeschaller an der Alten Försterei, ist in Zug 3 Hartmut am Pult. Der Mittfünfziger ist Lausitzer und nicht mal Fußballfan, er wurde halt auf die schnelle gebucht. Seine Mucke, die auch aus allen Lautsprechern in den Abteilen krächzt, spannt den großen Bogen vom Vorgestern zum Gestern: „Simply The Best“ von Tina Turner, Puhdys, The Sweet und natürlich Eisern-Union-Lieder. Nicht nur die Bundes-, auch die Geschmackspolizei bleibt hier im Zug außen vor.
Aber das ist hier auch keine Hipsterveranstaltung, weshalb sich die jungen Union-Fans in diesem Ambiente ebenfalls wohlfühlen. Jenny, 26, Studentin für Soziales, werktätig in zwei Nebenjobs und seit über zwei Jahren im Ultrablock zu Hause, findet, dass schon genug Hipster an die Alte Försterei kommen und zur familiären Union-Atmosphäre keinen nennenswerten Beitrag leisten. Der Virus mit dem viel beschworenen Unionfamiliending hat auch sie voll erwischt. Und das Partywesen kommt dabei ja nicht zu kurz.
„Das ist die Party des Jahres“, singen Die Atzen, während der Boden vom Gehüpfe vibriert und die „Berliner Luft“ gläschenweise über den Tresen geht und die Kehlen hinunterfließt. „Dit brauch ick, um zu leben“, begründet Jennys Kumpel, ein Hotelkaufmann, seine Begeisterung fürs Partyzugfahren. So ballern sich die Reisenden in dem heruntergekommenen Tresenwaggon, in dem früher vermutlich die berüchtigte DDR-Nullservicelegende Mitropa ausschenkte, dem Rausch entgegen, von DJ Hartmut mit Scooters dröhnendem „Hyper, Hyper“ supportet.
VIRUS-Vorstand Sven Mühle
Und so hört das im Prinzip auch nicht mehr auf an diesem Tag, denn das Spiel am Abend im Westfalenstadion entwickelt sich zum Realität gewordenen Traum. Union spielt super, und die „gelbe Wand“ der BVB-Fans wird vom roten Block der Unioner stimmlich gestürmt. Und fast wäre alles im großen Glück geendet, wenn den Eisernen auf dem Platz nicht im Elfmeterschießen die Nerven versagt hätten.
Aber egal, die Stimmung ist nicht mehr zu kippen. Zumal das allgemeine Fazit zurück im Partyzug steht: „Die gelbe Wand kannste vergessen!“ Tatsächlich war von der, zumindest in der Union-Ecke, wenig zu hören.
Bei der nächtlichen Rückfahrt herrscht in Zug 3 dann größtenteils Ruhe bei den Erschöpften. Einige saufen allerdings unter Dauerbeschallung im Partywaggon durch bis morgens früh. Der Rest schlummert in den Abteilen und träumt vielleicht davon, dass sich Sven Mühles Vision erfüllt: Aufstieg in die Erste Liga, für ein Jahr. Und dann zu jedem Auswärtsspiel einen Partyzug.
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