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Die Freiheit lernen – jeden Tag

PREIS Die Publizistin Carolin Emcke erhielt in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die taz dokumentiert ihre Dankesrede in Auszügen

Foto: dpa
Carolin Emcke

geboren 1967, ist Philosophin, Journalistin und Streiterin für eine plurale Gesellschaft. In ihrem neuen Buch „Gegen den Hass“ wendet sich Emcke ­gegen nationalistischen und religiösen Fanatismus. Den Friedenspreis erhielt sie für ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog.

von Carolin Emcke

Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich – ehrlich gesagt – nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete, und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang. Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität.

Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art, wie wir lieben, für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren.

Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre. Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeutete ihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen.

So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht (…) mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.

(…) Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. (…) Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft. (…)

Zurzeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudoreligiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom „homogenen Volk“, von einer „wahren“ Religion, einer „ursprünglichen“ Tradition, einer „natürlichen“ Familie und einer „authentischen“ Nation. (…) Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht. Alles Dynamische, alles Vieldeutige an den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft. (…)

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Fantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.

Das ist eben das, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: (…) Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen.

Sie wollen uns weismachen, dass es das nicht gäbe, demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. (…) In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen.

Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen. Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an „die Politik“ delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.

Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt

(…) Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. (…) Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht.

Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. (…) Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Drag Queens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. (…) Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbilder, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. (…) Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Ordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen?

Wir können immer wieder anfangen.

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