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Im Wimmel-Dschungel

Bilder Im Atelier Flora arbeiten vier Illustratorinnen und eine Autorin daran, die Welt der Kinderliteratur bunter zu machen. Ihre Spezialität: Wimmelbücher von Städten. Ein Besuch anlässlich der Frankfurter Buchmesse

von Susanne Messmer

Wer kleine Kinder hat oder wenigstens kennt, der weiß: Wimmelbücher braucht man. Man braucht sie eigentlich jeden Tag. Und weil es nicht so viele Wimmelbücher wie Tage im Leben eines kleinen Kindes gibt, kommt es sehr darauf an, dass die Wimmelbücher, die man hat, gut sind. Sie müssen so gut sein, dass man sie immer und immer wieder anschauen kann, weil man – egal ob als Kind oder als Mitbetrachter dieser bewussten visuellen Überforderung – immer und immer wieder auf neue Details deuten, über kleine Verschrobenheiten lachen kann.

Es sind Wimmelbücher wie diese, die in der Pankower Florastraße entstehen, einer idyllischen Straße außerhalb des S-Bahn-Rings, in der es trotzdem in hoher Dichte schicke Cafés gibt und hippe Buchläden, Restaurants, Kinderschuhgeschäfte und Blumenläden. Und eben auch das Atelier Flora. Hier arbeiten vier Illustratorinnen und eine Autorin unter einer hohen Stuckdecke und mit Blick auf ein langes Regalbrett an Kinderbüchern. Alle möglichen Kinderbücher, vor allem aber Wimmelbücher. So, als sei das Wimmeln in diesem Raum eine Art ansteckender Virus.

Judith Drews zum Beispiel. Inzwischen an die 50 Bücher hat die Illustratorin bereits gemacht. Ihre berühmtesten sind aber das Berlin-, das Paris- und das London-Wimmelbuch – denn wer diese Städte liebt oder gar selbst bewohnt, der wird bei Drews immer wieder Ecken, Geschichten oder Personen wieder entdecken, die er gut kennt.

So zeigt die erste Doppelseite des Berlin-Wimmelbuchs den Berliner Zoo, die Eisbären, das Café und die Pinguine, den Spielplatz, den Affenfelsen, die Flamingos. Aber was ist da los? Warum reißt eine Giraffe einer Frau die Handtasche weg? Warum trampelt ein Elefant auf einem Fahrrad herum? Und warum spaziert da ein Löwe mit weit ausgebreiteten Armen einfach so durchs Elefantentor?

Die Tiere brechen aus in Drews‘ Wimmelbuch. Auf den folgenden Seiten werden sie die ganze Stadt erkunden und für allerlei Wirrwarr sorgen. Die zweite Doppelseite zeigt dann die besagte Florastraße, die Heimat des Ateliers. Man erkennt das Kindercafé Schönhausen, das hier nur Café Hausen heißt, das Café Paula, den Buchladen Buchsegler. Eine Mutter fährt einen Tintenfisch im Kinderwagen spazieren, ein Nashorn geht auf dem Dach spazieren, und vielleicht handelt es sich bei einer hübschen Frau im roten Kleid mit weißen Punkten sogar um ein Selbstporträt der Zeichnerin Judith Drews.

Ist es das, was Wimmelbücher so unwiderstehlich macht: die Spielerei, die Doppelbödigkeit, die man in ihnen verstecken kann? „Ja, und noch viel mehr“, reden die Illustratorinnen durcheinander. Andrea Peter vor allem, Autorin eines Wimmelbuchs über die Schweiz, und Kristina Brasseler, die ein Wimmelbuch übers „Träumeland“ gemacht hat – ein Buch übrigens, in dem man sich in wunderschönen Luftschlössern verlaufen kann, auf bunten Paradiesvögeln, grünen Drachen oder in einem Bett auf die Reise geht, das von bunten Luftballons getragen wird.

Es ist einfach diese Freiheit, erzählen die Illustratorinnen, alles mit allem verknüpfen zu können. Auf einer Seite hundert Geschichten zu erzählen. Sich verspinnen zu dürfen, vom Hundertsten ins Tausendste. Und darüber hinaus.

Die Auflage steigt

Kein Wunder, dass das Wimmeln süchtig macht – nicht nur seine Macher, sondern auch seine Fans. Die Bücher von Kristina Brasseler, Judith Drews und Andrea Peter verkaufen sich hervorragend. Sie alle werden vom kleinen Berliner Wimmelbuchverlag verlegt, der kaum Werbung oder Presse für seine Bücher machen kann, aber trotzdem steigende Auflagen zu verzeichnen hat, und das in so vielen Ländern, dass alle Künstlerinnen im Atelier von ihrem Beruf leben können – teilweise auch mit Familie. Und das ist nun wirklich keine Selbstverständlichkeit in diesem kreativen Berlin.

Wo ist die Welt grün?

Aber sind es wirklich nur die Wimmelbücher, die das Atelier Flora verbindet? Nein, denn immer wieder machen die Künstlerinnen, die hier arbeiten, auch Gemeinschaftsprojekte, wie etwa die Illustration auf dieser Seite. Das wohl erfolgreichste waren die kleinen, quadratischen Atelierbücher „Alles Farbe!“, „Stell die Welt auf den Kopf“ und „Das Buch der Verwandlungen“.

Bei diesen Büchern geht es um Alltagsbeobachtungen von und für Kinder. Meist sieht man Fotos von Kindern auf dem Kopf, Gurken, die wie Bananen geschält sind, Männern mit Perlenketten und Frauen, die Rutschen hoch laufen. Wo ist die Welt eher grün, wann eher grau? Wie sieht es aus, wenn man einen Mann in eine Frau verwandelt und umgekehrt? Wie fühlt es sich an, wenn ich den Pulli als Hose anziehe, wenn mir ein Schornsteinfeger Brötchen verkauft, oder wenn ich mit den Füßen Klavier spiele?

Atelier Flora

Alle im Text erwähnten Wimmelbücher von Kristina Brasseler, Judith Drews und Andrea Peter kosten 9,95 Euro und sind im Buchhandel erhältlich.

Mehr Wimmelbücher findet man auf der Webseite des Berliner Wimmelbuchverlags: www.wimmelbuchverlag.de.

Eines der aktuellsten Bücher von Judith Drews ist mit ihrer Tochter Lilli entstanden. Es heißt „Draußen, mein Naturbuch“, kostet 24,95 Euro und erinnert auf zahlreichen Fotos Eltern wie Kinder daran, was man ganz ohne Spielzeug alles unternehmen und erleben kann: Kaulquappen beobachten, Ameisenstraßen suchen, ein Tipi, einen Staudamm oder ein Iglu bauen, Halsketten aus Apfelkernen basteln, Sternbilder finden oder Schneeflocken auf der Zunge zergehen lassen. (sm)

„Hunderte von Fotos haben wir für jedes dieser Bücher im Atelier ausgelegt und ausgesiebt“, schwärmt Judith Drews noch heute. Genauso wie von den Projekten, die sich an die Atelierbücher anschlossen: Von den Unterrichtsmaterialien, auf die sie so lange von Lehrern angesprochen wurden, bis sie sie schließlich machten. Von den Workshops, die sie in Schulen, Bibliotheken und auf Festivals veranstaltet haben.

Vor allem aber schwärmen Judith Drews und ihre Mitstreiterinnen von den Kursen mit den Flüchtlingskindern in Spandau vergangenes Jahr, die zu den Themen der Atelierbücher ganze Theaterstücke entwickelten. „Da waren Kinder dabei, die sich anfangs nur mit Händen und Füßen unterhalten konnten“, sagt Kristina Bresseler. „Am Ende wollten sie sich mit mir über Kameraobjektive unterhalten“, fügt Judith Drews an. „Mit einem der Jungen schreibe ich bis heute Mails.“

Synergien, Ideenüberschwang, Produktivität, es ist auf jeden Fall so: Wer einmal eine Stunde im Atelier Flora verbringen durfte, der fühlt sich am Ende, als sei er eine Stunde in einem Wimmelbuch unterwegs gewesen. So viele Gedanken, Pläne und vergangene Projekte wirbeln da im Raum durcheinander.

Als endlich eine kleine Redepause eintritt – die erste nach 70 Minuten –, sagt Stefanie Fiebrig, die als einzige nicht illustriert, sondern hauptsächlich für Pixi-Bücher textet: „Ich bin ziemlich froh, dass ich hier im Atelier gelandet bin. In meiner Küche kann ich nicht arbeiten. Da lenkt mich einfach zu viel ab.“

Und plötzlich brechen alle in großes Gelächter aus.

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