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Waldorf in aller Welt

International Ob Kitas oder Schulen: Waldorf ist auf allen Kontinenten gefragt. Voraussetzungen und Herausforderungen variieren von Land zu Land

von Mirjam Beile

Am Anfang war die Zigarettenfabrik. Für den Aufbau einer geplanten Betriebsschule für die Kinder seiner Angestellten holte der Stuttgarter Unternehmer Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria-Tabakwarenfabrik, anno 1919 den Reformer Rudolf Steiner ins Boot. Unter dessen pädagogischer Beratung und Betreuung entstand mit der Astoria-Betriebsschule das Vorbild für die heutigen Waldorfschulen.

Der Beginn einer weltweiten Erfolgsgeschichte. Knapp 100 Jahre später hat die Pädagogik Steiners in vielen Ländern rund um den Globus Fuß fassen können: An 1080 Waldorfschulen in 64 Ländern wird sie praktiziert, hinzu kommen 1843 Waldorfkindergärten in knapp 70 Ländern (Stand Juni 2016) sowie diverse Einrichtungen für anthroposophisch orientierte Heilpädagogik und Sozialtherapie.

In Deutschland sind die meisten Einrichtungen zu finden (234 Schulen, 570 Kitas), die USA folgen auf Platz zwei (126 Schulen, 160 Kitas) – danach wird es zwei- oder gar einstellig. Dennoch: Das Konzept findet offenbar Anklang, auch weit weg von uns – politischen, kulturellen und sozialen Unterschieden zum Trotz. Doch wo auf der Welt haben es Waldorf-Pädagogen schwerer – und warum?

Die erste große Hürde ist finanzieller Natur. An Unterstützung von staatlicher Seite ist weltweit wenig zu erwarten – gibt es Zuschüsse, reichen sie in der Regel nicht aus, so dass Schulgeld fällig wird. Wer sich das nicht leisten kann, wird zwar durch Solidargemeinschaften und Spenden unterstützt. In den ärmeren Ländern der Erde sind Waldorfschulen aber häufig ausschließlich spendenfinanziert, Lehrer verdienen kaum etwas. So existieren etwa in ganz Afrika bislang gerade einmal gut 20 Schulen, in Nepal zwei, in Tadschikistan und Kirgisien jeweils nur eine.

Auch staatliche Restriktionen, was die Gestaltung des Unterrichts betrifft, sind Barrieren. Jaspar Röh, beim Verein „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig, fasst es so zusammen: „Je strenger das Bildungssystem in einem Land an eine politische oder religiöse Agenda geknüpft ist, desto schwieriger ist es, eine eigene, freie Schule zu gründen, die sich aus diesen Vorgaben herauslöst.“

Es gibt religiöse Hürden

Das bringt mancherorts eine Verwässerung des Waldorf-Ansatzes mit sich – für Jost Schieren, Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik an der Alanus-Hochschule in Alfter, sind die Charter Schools in den USA dafür beispielhaft – sie werden vom Staat finanziert, stehen aber unter der Leitung von Institutionen mit pädagogischem Konzept, darunter auch Waldorf. Während die Schulen zwar viele Freiheiten genießen, müssen sie sich dennoch an standardisierte Leistungstests und Zielvereinbarungen halten. Der anthroposophische Ansatz der Waldorf-Pädagogik ist Kritikern darüber hinaus zu religiös und ihrer Meinung nach an öffentlichen Schulen fehl am Platz. All das hat Kompromisse zur Folge, die zu einem „Aufschrei innerhalb der Waldorf-Bewegung“ geführt haben, so Schieren. Ein ähnliches Beispiel aus England: Als dort 2012 die erste staatlich finanzierte Waldorfschule eröffnete, gab es unter anderem die Auflage, IT-Unterricht abzuhalten und Tests der öffentlichen Schulen weitestgehend zu übernehmen.

Zugeständnisse sind auch da erforderlich, wo Religion eine große Rolle spielt. In Israel, erzählt Professor Schieren, gibt es Schulen, die stark ultraorthodox geprägt sind, und Ägyptens einzige Waldorfschule, die Sekem-Schule, geht sehr in der dortigen Kultur auf – hier wie dort sei der Waldorf-Ansatz kaum noch spürbar. Überhaupt sind Waldorf-Einrichtungen in islamischen Ländern bis heute nicht weit verbreitet, weil dort zusätzlich der koedukative Aspekt (also der gemeinsame Unterricht von Mädchen und Jungen) nicht gern gesehen wird, sagt Schieren.

Doch auch innerhalb Europas gibt es religiöse Hürden – etwa den weit verbreiteten Katholizismus in Spanien, der sich offenbar nicht gut mit der anthroposophischen Lehre verträgt. Schieren: „In protestantischen Ländern, etwa Skandinavien, ist es für Waldorfschulen viel leichter.“ In der Türkei wiederum können sich Waldorfschulen wegen der restriktiven Politik derzeit kaum halten, geschweige denn neue Einrichtungen hinzukommen.

Aber es geht auch anders: „Manchmal kann es gerade die problematische Entwicklung der Politik sein, die Menschen dazu bewegt, nach alternativen Schulen zu suchen“, erzählt Jaspar Röh. „So etwa in Ungarn, wo wegen des extrem nationalistischen Kurses der Regierung, der zunehmend auch in den staatlichen Schulen spürbar ist, seit einiger Zeit sehr viele neue Waldorfschulen entstehen.“

Den schwersten Stand innerhalb Europas hat die Waldorf-Pädagogik laut Jost Schieren aber in Frankreich – nirgendwo sonst ist der Staat so stark und der Laizismus so extrem ausgeprägt.

Es gibt aber auch ein Land mit einem regelrechten Waldorf-Boom, nämlich China. Schieren: „Die kommunistische Restriktivität geht immer mehr zurück, Teile einer neuen Mittelschicht suchen jetzt nach neuen pädagogischen Ansätzen.“ Und zwar nicht nur trotz der vorherrschenden Leistungsethik, sondern gerade wegen dieser, betont Jaspar Röh: „Hoher, einseitiger Leistungsdruck bedeutet ja nicht nur, dass alle Kinder, die dem nicht standhalten, durchs Raster fallen, sondern Kindheit und Entwicklung zahlen dafür einen hohen Preis. Immer mehr Eltern sehen das.“ Überhaupt ist Waldorf in Asien nahezu nahtlos vertreten. Das liegt unter anderem daran, dass dort nicht nur intellektuelle Fähigkeiten zählen und Heterogenisierung akzeptiert, ja sogar erwünscht ist, erklärt Jost Schieren.

Ob es mit all den Erfahrungen zu tun hat, die Waldorfpädagogen weltweit machen? Fakt ist, dass der Waldorf-Charakter sich in den letzten 10, 15 Jahren weg vom kulturexportierenden hin zu einem kulturadaptiven entwickelt hat, so jedenfalls Jost Schierens Eindruck. Denn statt Kindern Fremdes überzustülpen, will man sie jetzt verstärkt in ihrem jeweiligen Umfeld ernst nehmen. Und um die Kinder soll es ja schließlich gehen – an allererster Stelle.

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