: Bis hierhin und nicht weiter
AUFWERTUNG Die Gülbols aus Kreuzberg sollen zwangsgeräumt werden. Sie wehren sich – und bekommen viel Unterstützung. Längst sind sie zum Symbol geworden für den Kampf gegen steigende Mieten
■ Zwangsumzüge: Zahlen zu Zwangsräumungen werden in Berlin nicht gebündelt erfasst. Mieterverbände gehen von rund 3.000 pro Jahr aus – Tendenz steigend. Darauf verweist auch die Zahl der Räumungsklagen: Meldeten die Sozialämter der Bezirke 2009 noch 9.072, waren es 2010 bereits 9.934. Bis September mussten 621 Hartz-IV-Haushalte in diesem Jahr umziehen, weil ihre Miete dem Jobcenter zu teuer war.
■ Die Mieten: Bei Neuvermietungen ist Friedrichshain-Kreuzberg inzwischen der teuerste Bezirk. 8,02 Euro Miete pro Quadratmeter kostet hier laut dem GSW-Wohnmarktreport im Schnitt eine Wohnung – mehr als in Charlottenburg-Wilmersdorf. Stadtweit kletterten die Mieten laut GSW im letzten Jahr um 7,8 Prozent. (ko)
VON SUSANNE MESSMER
Ali Gülbol ist in seiner Arbeitskleidung in der Kreuzberger Regenbogenfabrik erschienen. Journalisten stehen um ihn herum und wollen viele Dinge von ihm wissen. Der 41-jährige Malermeister wirkt konzentriert. „Ich darf heute später zur Arbeit kommen“, erklärt er. „Ich habe von der Pressekonferenz erzählt“, fügt er an. „Es ist mir wichtig, offen zu sein. Die Menschen sollen endlich aufwachen.“
Dann setzt sich Ali Gülbol lässig aufs Podium, neben seine Frau Necmiye Gülbol. Dort werden gleich auch Vertreter der Initiative „Zwangsräumung verhindern“ Platz nehmen – daneben Detlev Kretschmann von der Mietergemeinschaft Kotti &Co. und Katrin Schmidberger, grüne Bezirksabgeordnete in Friedrichshain-Kreuzberg. Es ist ein schöner Tag, vorm Fenster wirbeln die Schneeflocken.
Die Gülbols können sich nicht freuen. Sie sollen zwangsgeräumt werden. Am kommenden Mittwoch hat sich die Gerichtsvollzieherin angekündigt. Kurz umreißen die Redner, was bisher geschah.
Ali und Necmiye Gülbol, die Eltern dreier Kinder, wohnen seit 21 Jahren zusammen in der Lausitzer Straße 8 in Kreuzberg, Ali Gülbol ist sogar in dem Haus aufgewachsen. Die 122 Quadratmeter große Wohnung, um die es geht, sanierte er vor 16 Jahren – auf eigene Kosten. Mit dem damaligen Besitzer vereinbarte er mündlich, dass er die Wohnung kaufen wird. Doch dann wurde das Haus zwangsversteigert. Die Mieterhöhung kam, die Gülbols klagten. Sie verloren. Als sie wegen eines Trauerfalls in der Familie wochenlang versäumten, die Nachforderungen zu zahlen, kam die Kündigung. Obwohl die Gülbols ihre Schulden dann beglichen und bis heute die Miete überweisen, sollten sie schon im August die Schlüssel abgeben. Sie weigern sich.
Die Gülbols haben bislang standgehalten, aber sie haben Angst. Denn der Besitzer des Hauses lässt sich nicht beeindrucken. Die Solidarität, die die Familie in immer stärkerem Maße erfährt, interessiert ihn nicht. Ende Oktober kam die Gerichtsvollzieherin zum ersten Mal, mehr als 100 Nachbarn und Aktivisten blockierten das Haus in der Lausitzer Straße, sodass sie nicht durchkam. Es gab Zeitungsberichte und eine Liste von Unterstützern von Autor Raul Zelik bis Klaus Lederer von den Linken. Doch der Besitzer äußert sich nicht, weder gegenüber den Gülbols noch gegenüber den Medien. Die Gülbols wissen nicht, was sie erwartet.
Es ist an diesem Donnerstagvormittag in der Regenbogenfabrik, als habe sich in den letzten dreißig Jahren in Kreuzberg nicht viel verändert. Oder aber, als sei Kreuzberg wieder das, was es einmal so besonders machte. Der Widerstand formiert sich. Man trägt Rastas, Lederjacken, man umarmt sich zur Begrüßung, duzt einander. Die Aktivisten der Initiative „Zwangsräumungen verhindern“ wollen nicht bei ihren Namen genannt werden, da es ihnen „um die Sache“ geht. Als sie aber erzählen von dieser „Sache“ und den schönen Satz von Ali Gülbol zitieren, dass „nicht wir es sind, die das Recht verlassen haben“, sondern dass „das Recht uns verlassen hat“, da schluchzt eine von ihnen auf. Necmiye Gülbol sucht nach einem Taschentuch.
Sie und ihr Mann Ali, sie wollen sich wehren. Sie sind zum Symbol des neuen alten Widerstands geworden. Die Verhinderung ihrer Zwangsräumung ist ein Zeichen: Bis hierhin. Und nicht weiter.
Als die Pressekonferenz zu Ende ist, muss Ali Gülbol zur Arbeit. Necmiye Gülbol hat heute frei. Sie stapft durch den Schnee, der passend zum Nikolaustag immer höher wird, vorbei an der Kita, in der sie für 400 Euro im Monat arbeitet. Sie hängt an diesem Job, sagt sie.
Es geht durch ihren Kiez. Die 40-Jährige kennt jeden Kaugummiautomaten, in jedem dritten Haus hat sie Bekannte. Sie will in ihr Lieblingscafé am Kottbusser Tor. Da geht sie oft Tee trinken. Besonders, wenn ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Und das passiert in letzter Zeit oft.
Necmiye Gülbol kam als Alis Braut vor zwanzig Jahren aus einem türkischen Dorf an der syrischen Grenze nach Berlin – demselben Dorf, aus dem Alis Eltern stammen. Am Anfang war es schlimm, erzählt sie. Dann lernte sie die Sprache. Sie fühlte sich immer wohler in Kreuzberg. Sie würde gerne die Mittlere Reife nachholen, sich zur Erzieherin ausbilden lassen. Doch im Moment ist an so etwas nicht zu denken, sagt sie, während sie im Café einen Sesamkringel zerreißt.
Die Gülbols haben die Ungewissheit nicht mehr ausgehalten: Diese ständige Angst, jederzeit aus den eigenen vier Wänden getragen werden zu können. Sie haben ihre Wohnung, für die sie noch immer mehr als 700 Euro kalt im Monat bezahlen, ausgeräumt und wohnen bei den Schwiegereltern im selben Haus.
Ein paar Stunden später, es ist Abend geworden. Man lädt ins Wohnzimmer der Schwiegereltern, in dem ein Kronleuchter mit einer verirrten Christbaumkugel hängt. Nach und nach gesellen sich die Familienmitglieder auf der Sitzgruppe mit den bunten Polstern, zuerst der Vater, diesmal im schwarzen Rolli, dann die Mutter und die Kinder: Aylin, die Tochter mit den wilden Locken – und schließlich, etwas widerwillig, die beiden Söhne Amir und Akim. Aylin, mit 20 die Älteste, drückt erst einmal dem Jüngsten das Silbertablett in die Hand und sagt: „Biste so lieb?“ Akim, 16 Jahre alt, die Jeans in den Kniekehlen, dackelt brav in die Küche.
Dann erzählt Aylin. Im Moment schläft sie im Großelternschlafzimmer. Deshalb sei es dann auch nicht so gut geworden, das Abi im letzten Sommer. Nun muss sie auf einen Studienplatz warten.
„Die wird schon ihren Weg gehen“, sagt der Vater. Nur um die Jungs macht er sich Sorgen. Akim, der gerade den Tee bringt, wehrt sich. „Wir haben freiwillig wiederholt. Wir werden Abi machen.“ Neulich in der Schule, da hat er abgestritten, dass seine Familie die aus der Presse ist. Es ist ihm peinlich.
Diese Geschichte, sie frisst an den Kindern.
Das weiß auch der Vater. „Wir hätten das Ganze auch still und leise mit uns machen lassen können“, sagt er. Nur: Das machen so viele, bis zu 3.000 im letzten Jahr, schätzt die Initiative „Zwangsräumung verhindern“. Zu denen will Ali Gülbol nicht gehören. Er weiß, dass es hier nicht nur um Zwangsräumung, dass es um größere Themen geht. Denn seit Jahren werden in Berlin viele verdrängt, die ihren Kiez bislang prägten. „Berlin wird verkauft“, sagt er. Er will nicht weg. In anderen Bezirken wäre er nicht nur fremd, er hätte vielleicht auch Angst um die Kinder. „Menschen mit unserem Aussehen mögen sie nicht überall“, sagt er.
Ali Gülbol liebt sein Kreuzberg. Genau erinnert er sich an den Kiez seiner Kindheit, das Kreuzberg der frühen Achtziger. Er kennt sie, die Leute, die in Berlin die großen Alternativen suchten und die schäbigen Häuser besetzten. „Ich fand das gut“, sagt er. Er findet auch die Typen gut, die ihm heute die Stange halten, aufmüpfige Leute wie die von der Initiative. Denn sie geben ihm das Gefühl, nicht immer das schwächste Glied zu sein – egal, wie gern und lang man hier lebt, wie man die Sprache spricht und ob man, wie die Gülbols, die deutsche Staatsbürgerschaft hat.
Denn im Grunde könnte die Geschichte der Gülbols als Erfolgsgeschichte erzählt werden. Alis Vater kam als Bauer nach Deutschland und arbeitete sich beim Bau hoch. Allen Brüdern geht es gut: Einer studiert gerade wieder, einer arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, der Dritte ist Sozialarbeiter. Und Ali selbst? Hat seinen Meister gemacht, einen Betrieb gegründet. Wollte lieber etwas kaufen als zur Miete wohnen. Bis das Theater mit dem neuen Besitzer begann.
„Bis auch das Theater mit dem Leben begann, das immer teurer wurde“, fügt Ali Gülbol an. Sein Betrieb warf nicht genug ab. Er gab auf, ließ sich wieder einstellen, von Befristung zu Befristung. Außerdem muss er Schulden abstottern, die er für den Meisterbrief gemacht hat. Die Gülbols verdienen drei- oder vierhundert Euro mehr, als sie bekämen, wenn sie zum Jobcenter gingen. Das kommt für sie nicht in Frage. Eher spielen sie mit dem Gedanken, in die Türkei auszuwandern.
Manchmal erinnert sich Ali Gülbol daran, wie sie früher lebten, in der Zweizimmerwohnung. Wie er mit seinen drei Brüdern in einem Bett schlafen musste. In Momenten wie diesen sorgt er sich, dass die Erfolgsgeschichte seiner Familie bald enden könnte. Aber dann holt er tief Luft und sagt einen seiner starken Sätze.
Zum Beispiel den: „Alle sind bedroht.“ Oder auch den: „Wir sind nicht allein.“
Am Tag nach dem Treffen ruft Ali Gülbol noch einmal an. Die Zwangsräumung ist verschoben worden, auf Anfang Januar, vermutet er. Könnte sein, dass sie einlenken. Könnte aber auch sein, dass sie die Gülbols und ihre Unterstützer mürbe machen wollen. Das Bangen geht weiter.