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Planung Real gewordene Utopie: Im 20. Jahrhundert haben die Niederländer eine Provinz gebaut – dort, wo früher Wasser war. Ideal ist Flevoland nicht geraten. Oder? Ein BesuchGesellschaft vom Reißbrett

Aus Flevoland Fabian Busch(Text und Foto)

Das ist es also, das neue Land. Wie eine riesige Tischdecke, ausgebreitet und glatt gestrichen für all die idealistischen Ideen und hochtrabenden Pläne. Von der ehemaligen niederländischen Küstenstadt Harderwijk geht es über einen breiten Damm – und schon beginnt Flevoland. Die zwölfte Provinz, dem Wasser abgetrotzt und von Menschenhand gemacht. Egal für welche Ausfahrt des Kreisverkehrs man sich dort entscheidet: Es geht erst mal ziemlich lang geradeaus. Am Wegesrand: Wäldchen aus dünnen Birken. Windräder, überall.

Vor hundert Jahren schäumte hier noch Meerwasser. Später trennten die Niederländer die Bucht von der Nordsee ab, das Wasser wurde süß und zum Ijsselmeer. Dann begann das größte Projekt der niederländischen Landgewinnung, die größte künstliche Insel der Welt. Zwischen 1937 und 1962 entstanden knapp 1.500 Quadratkilometer Land – von „Poldern“ sprechen die Niederländer. „Das neue Land“, wie es genannt wurde, sollte helfen, die Probleme des alten zu lösen: mehr Wohnraum für die wachsende Bevölkerung. Mehr Platz für Ackerbau.

In der Kleinstadt Zeewolde sitzen Henny und Rein Nobel in der Wohnküche ihres kleinen Reihenhauses. Zwischen ihren Fingern qualmen Zigaretten, daneben dampft Kaffee. Beide tragen schwarze Strickjacken und haben die gesunde Gesichtsfarbe von Menschen, die im Freien arbeiten. Rein Nobel ist einer der Pioniere, die nach Flevoland kamen, als der Boden fertig war. 1979 zog er mit seiner Familie „auf den Polder“. Sein Vater hatte im dritten und zuletzt fertig gestellten Teil ein Grundstück für den Milchviehbetrieb der Familie gekauft. „Am Anfang stehst du da. Und du siehst: gar nichts“, sagt er. „Aber wir hatten nur nach dem Boden geschaut. Und gedacht: Das ist fantastisch!“ Der neu geschaffene Polderboden nämlich galt als besonders fruchtbar.

Provinz voller Pioniere

Die Familie hat den Hof inzwischen verkauft, Rein Nobel arbeitet auf einem Golfplatz. Henny zog später der Liebe wegen zu ihm nach Flevoland. Sie haben hier sich und ihre Arbeit. Bloß Liebe zu diesem Flecken Erde, die haben sie nicht. Amsterdam habe Atmosphäre, sagt Henny Nobel. Aber das hier? „Nach Flevoland kam jeder von außerhalb. Hier verbindet die Menschen nichts.“ Ihr Mann sieht die Sache anders. „Meine Generation hat hier alles aufgebaut. Wir mussten Pioniere sein. Das schafft eine Verbindung.“

Wenn im Frühling die blühenden Tulpenfelder wie bunte Teppiche aussehen, könne es in Flevoland herrlich sein, das muss Henny Nobel zugeben. Trotzdem führt der Weg der beiden oft raus aus dem Polder, sie sind Motorradfahrer – und Motorradfahrer fahren am liebsten Kurven. Im auf dem Reißbrett entworfenen Flevoland gibt es die kaum.

1986 bekam Flevoland den Status einer Provinz. Dreißig Jahre ist sie damit jetzt alt. Und die Glückwünsche zum runden Geburtstag fallen nicht überschwänglich aus: Mit einer Mischung aus Abfälligkeit und Mitleid reagieren die Niederländer auf Flevoland. Von gescheiterten Idealen ist die Rede, vom missglückten Plan, die ideale Provinz zu bauen. Womit man schnell bei Joris van Casteren wäre, einem Autor, vielleicht einer der bekanntesten Söhne Flevolands. Der Hauptstadt Lelystad hat er ein literarisches Denkmal gesetzt; in seinem gleichnamigen Buch schildert er seine verkorkste Jugend in der geplanten Stadt.

In van Casterens altem Mercedes macht Lelystad auf den ersten Blick keinen schlechten Eindruck. Vielleicht weil die Sonne gerade auf die Stadt mit ihren 77.000 Einwohnern scheint, das blaue Wasser des Ijsselmeers funkeln lässt. Van Casteren, 40, wohnt inzwischen in Amsterdam, aber mit Gästen macht er noch Touren nach Lelystad. Er parkt seinen Wagen neben flachen Reihenhäusern dieser Stadt, „die alle sozialen und kulturellen Anforderungen erfüllen sollte“, wie er in seinem Buch schreibt.

Mit Abfälligkeit und Mitleid reagieren die Niederländer auf Flevoland

Womöglich hätte da wirklich etwas Großes entstehen können: die real gewordene Utopie im Ijsselmeer. Dem Stadtplaner Cornelis van Eesteren, der auch den Boulevard Unter den Linden in Berlin modernisiert hatte, mangelte es Ende der Fünfziger jedenfalls nicht an Ideen. Er wollte eine imposante Stadt mit dem Gesicht zum Wasser, mit Rosengarten, Fußballstadion, Universität und Konzerthalle. Nur hatte Cornelis van Eesteren nicht wirklich das Sagen. Der „Reichsdienst“ war als staatliche Behörde beauftragt, die Provinz zu entwickeln und zu planen. Dort saßen Ingenieure, die es schnell und sparsam mochten. Meistens setzten sie sich durch.

Mit der Zeit reihten sich Neubaugebiete an Neubaugebiete. In großen Gemeinschaftszentren sollten die Bewohner allen Hobbys nachgehen, alle Besorgungen machen können. Heute ist Lelystad zwar auffällig grün, aber auch flach und ausdruckslos. Die Wälder hier gelten als besonders licht. Nicht nur wegen der dünnen Stämme der jungen Bäume – vor allem, weil die Arbeiter sie sauber in Reih und Glied gesetzt hatten.

Als Joris van Casteren in den Achtzigern seine Pubertät durchlebte, tat das auch die Stadt. Zerbrochene Fensterscheiben, Graffiti an jeder Häuserwand, in die Luft gesprengte Bushäuschen. „Der Vandalismus war wirklich eine Welle. Er entstand aus reiner Langeweile.“ Die Beamten des Reichsdienstes hatten mit der Schlichtheit Ruhe und Ordnung schaffen wollen. Sie produzierten das Gegenteil. Lelystad galt bald als kriminellste Stadt des Landes.

Viele Idealisten, die es in den Gründerjahren aufs neue Land zog, hatten nur das Beste gewollt. Ein Lehrer sagte einmal zu van Casterens Klasse: „Lelystad hat noch keine Geschichte. Ihr müsst sie schreiben.“ Die Fenster in den Wohnhäusern wurden so platziert, dass die Bewohner möglichst lange von der Sonne profitierten. Stolz war man in Lelystad besonders auf das weltweit erste „getrennte Verkehrssystem“: unabhängig voneinander verlaufende Verkehrswege für Autos, Radfahrer und Fußgänger. Radwege führten auf Pfeilern entlang; dann merkte man, dass ein düsterer Radweg fernab jeder Straße nicht unbedingt ein sicherer Ort ist.

Stadt ohne Vergangenheit

Überhaupt wurde viel experimentiert: In den Schulen lernten alle Kinder eines Jahrgangs gemeinsam, statt nach Begabung sortiert zu werden. Van Casteren nahm das als Chaos wahr. Ob er für diese Ideen gar kein Verständnis hat? Er denkt nach. „Dazu hätte man die passenden Menschen gebraucht.“

Denn als Lelystad entstand, renovierte Amsterdam gerade seine heruntergekommenen Arbeiterviertel. Wer nicht mehr ins hippe Bild der Hauptstadt passte, wurde weggelobt auf den Polder. Später hat der linksliberale Politiker Hans Gruijters, der erster Bürgermeister von Lelystad war, seine Stadt als „Planungsfehler“ bezeichnet: Sozial schwache Gruppen machten einen außergewöhnlich großen Anteil der Bevölkerung aus, in den Achtzigern empfing fast jeder vierte Bewohner Sozialhilfe. Die Arbeitslosenquote lag bei bis zu zwanzig Prozent.

Und heute? Liegt sie bei rund acht Prozent. Auch sonst geht es der Stadt blendend. So zumindest sieht es Margreet Horselenberg, 65, die durch das moderne Rathaus führt: Zehn Jahre war sie Bürgermeisterin, bis Mitte 2016; mit einer Werbekampagne versuchte sie, der Kommune ein neues Image zu verpassen. Lelystad hat mehr Wohnraum im teuren Segment geschaffen, hat jetzt einen Güterhafen, demnächst soll ein Regionalflughafen öffnen. Die Polizei ist präsenter. „Lelystad ist erwachsen geworden“.

Dass es der Gesellschaft der Zugezogenen an Zusammengehörigkeitsgefühl mangelt, findet die Bürgermeisterin nicht. „Ja, ursprünglich stammt hier jeder aus einer anderen Gegend“, sagt sie. „Aber das hat auch einen besonderen Zusammenhalt geschaffen.“ Zwei Erstaufnahmezentren für Geflüchtete gibt es, die Menschen seien herzlich empfangen worden. Tatsächlich hat keine niederländische Provinz so viele Geflüchtete aufgenommen wie Flevoland, wo die Einwohnerzahl sowieso steigt. Vor allem in Lelystads Nachbarstadt Almere, die in den vierzig Jahren seit dem Bau erster Wohnungen mit rund 200.000 Bewohnern zur siebtgrößten Kommune der Niederlande geworden ist.

Joris van Casteren kommt mit gemischten Gefühlen zurück in seine alte Heimat. Nicht wegen der Erinnerungen an seine schwierige Jugend. „Ich habe mein Buch ohne Groll geschrieben. Ich finde, dass Lelystad eine großartige Stadt ist, wenn ich an all die Geschichten denke, die darin stecken.“ Das Problem sei eher, dass es immer weniger Gebäude gebe, an denen die Erinnerungen sich festkrallen könnten. Nachdem der Ruf der Stadt in den Achtzigern ruiniert war, begann man, missliebige Häuser abzureißen. Lelystad fehlt eine Vergangenheit. Die nur wenige Jahrzehnte alte Geschichte wurde mit der Abbruchbirne beschädigt. „Dabei hätte man aus Flevoland eigentlich ein Freilichtmuseum machen müssen“, sagt van Casteren. Als Erinnerung an die Zeit, in der man dachte, die ideale Gesellschaft sei planbar.

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