Sieht doch gar nicht so schlimm aus. Abendstimmung in Jena-Lobeda Foto: dpa

Landung in Lobeda

Stadtsafari Jenas riesiger Plattenbaubezirk hat einen miesen Ruf. Auch der NSU hat hier seine Spuren hinterlassen. Doch der Stadtteil ist alles andere als ein Getto. Versuch einer Annäherung

Aus Jena Tarek Barkouni

Es ist diese verfluchte Autobahn. Sie ist schuld am Bild Jenas – am Bild Lobedas. Etwa drei Minuten kann man von dort aus einen Blick auf die Stadt werfen. Graue Betonklötze, neben grauen Betonklötzen, neben grauen Betonklötzen. Reihenweise Balkone, fein säuberlich aneinandergepappt. Manche liebevoll bepflanzt, andere genauso trist wie die umgebende Wand. Die Grünflächen und Spielplätze zwischen den Häusern kann man von der A4 aus nicht erkennen.

Dafür müsste man schon die Abfahrt nehmen und hineinfahren in das Klötzchengebiet. Stattdessen gibt es Vorurteile: in den verfallenen Plattenbauten würde sowieso nur der soziale Abschaum von Jena vor sich hin vegetieren; nachts ein unbetretbares Getto mit brennenden Mülltonnen und glühenden Crystal-Meth-Augen aus dunklen Ecken. Geburtsstätte des NSU.

Der Stadtteil Neu-Lobeda, bestehend aus Lobeda-West und Lobeda-Ost, ist der südliche Zipfel von Jena, eingequetscht zwischen den Kernbergen auf der einen Seite und den Saaleauen auf der anderen.

Hier entstand in den Sechzigern, was Makler heute wohl „wohnen mit DDR-Charme“ nennen würden. Fünf Blöcke, typische Plattenbauten der Marke „Magdeburg“, werden im Dezember 1967 bezugsfertig. Fünf Stockwerke, insgesamt 210 Wohnungen mit Einbauküchen. Warmes Wasser aus der Wand, sogar Telefonanschlüsse gibt es – mehr, als die Bewohner der Innenstadt von ihren Wohnungen behaupten können. Dort wird zu dem Zeitpunkt häufig noch mit Briketts geheizt. Die neuen Wohnungen sind beliebt, lange Wartelisten sind die Regel, auch wenn Müll anfangs unter freiem Himmel gelagert wurde und der Gestank der ehemaligen Schweinemastanlage an heißen Tagen aus dem Boden dringt.

Unter 100 Mark kostete damals eine 3-Zimmer Wohnung mit 66,87 Quadratmetern. Kurz vor der Wende lebten über 33.000 Menschen hier, geplant war die Siedlung für 45.000. Der sozialistische Traum: Arbeiter und Professoren nebeneinander, Balkon an Balkon. Der Kindergarten heißt Matrjoschka, die Schule wird nach Ernst Thälmann benannt.

Dann kam der Kollaps. Der Zusammenbruch der DDR führte zum Zusammenbruch von Lobeda. Friedliche Revolution hin oder her, für Lobeda waren die Entlassungen bei Zeiss und anderen Jenaer Firmen eine Katastrophe. Dazu kamen Mieterhöhungen, die viele Menschen ins Umland trieben. Der Kapitalismus hatte Lobeda erreicht. Die Folgen: Bis zu 13 Prozent Leerstand, marode Baustrukturen, fehlende Infrastruktur. In Lobeda stand auch die Bombenwerkstatt in einer Garage, die Beate Zschäpe mietete, und kurz vor dem Untertauchen des NSU durchsucht worden war. Uwe Böhnhardt wuchs hier auf. Als Jugendliche hingen sie gemeinsam auch im Stadtteil ab. Die einst so beliebte Wohngegend drohte zu dem zu werden, was man heute Problemviertel nennt.

Eine Safari aus der Stadtmitte ins vermeintliche Getto dauert mit der Straßenbahn etwa 15 Minuten. Auffällig voll ist es. Kinder mit Schultaschen, die viel zu schwer aussehen. Studenten, die vorgeben zu lernen und doch ständig aufs Handy schauen. Rentner, die stoisch vor sich hin starren. Aber auch die Abgehängten, schon vormittags Betrunkenen.

Ausstieg an der Haltestelle Universitätsklinikum; hinter einem das Krankenhaus, vor einem der Salvador-Allende-Platz. Immer noch tragen hier viele Straßen Namen des Sozialismus: Karl Marx, Emil Wölk, Werner Seelenbinder. Hier ist die Welt noch in Ordnung, ein bisschen DDR darf noch sein. Zur Erinnerung.

Zwischen den Schluchten der Hochhäuser verläuft man sich schnell. Fixpunkte fehlen und irgendwie sieht alles gleich aus. Die Straßen sind breit und überraschend sauber. Noch ist es hell, Menschen kommen von der Arbeit oder vom Einkauf.

Vor einem der niedriger gelegenen Balkone steht eine Frau mit Hund. Ihre wuchtigen Arme halten den Hund, dessen struppiges Fell und abgemagerte Figur einen bemerkenswerten Kontrast bilden. Sie unterhält sich mit der Frau, die auf dem Balkon steht. Auf die Frage, wie sie es hier finden würden, kommt nur ein lapidares: „Na schauen Sie sich doch mal um! Ist doch schön hier.“ Wie lange sie hier wohnen? Die Frau auf dem Balkon schaut auf die Uhr: 27 Jahre. Die Hundebesitzerin muss überlegen und will sich nicht festlegen. Irgendwas zwischen 25 und 30 Jahren. Es sei so schön wie nie, da sind sich beide einig. Auch wenn früher doch manches besser gewesen sei. Was genau, können oder wollen beide nicht sagen.

Angekommen im Studentenklub Schmiede e. V. ist der erste Gedanke: Die Website sieht besser aus als das Gebäude. Holzgetäfelte Decken, schwere Möbel und die Charts der 68er auf MDR ziehen nicht unbedingt studentische Gäste an. Sowieso ist die Haardichte am Hinterkopf hier ziemlich gering und Gespräche finden in Thüringer Dialekt statt. Dafür kennt man sich: Ein Mann – beeindruckender Bauch, laute Stimme – entdeckt seinen alten Bauleiter am Tresen und wechselt ins Russische. Freude auf allen Seiten, anstoßen, weitermachen. Die Männer – tatsächlich sitzen dort nur Männer, bis auf die junge Wirtin – wirken interessiert. Die Armenien-Resolution des Bundestages wird besprochen; und für gut befunden. Jetzt müsse man nur noch den deutschen Völkermord 1904 an den Herero anerkennen.

Einen Tisch weiter sitzen sich zwei Männer gegenüber, die ein deutliches Besoffenheitsungleichgewicht auszeichnet. Der eine lallt mehr als er redet, der zweite ist Wortführer. Seine drei Thor-Hämmer am Hals sind auffällig, aber er betont: „Das ist nordisch! Das hat mit Nazi nix zu tun!“ Er hält sich nicht für einen Rechtsradikalen und die AfD würde er nie wählen. Was er früher so gewählt habe, fragt der erste. Die NPD, ist die überraschend ehrliche Antwort. Der deutlich betrunkenere Mann hält dagegen, die Diskussion geht von Lügen über Flüchtlinge zu den Übergriffen in Köln und dann zum Jenaer Pfarrer Lothar König und seiner Tochter Katharina, die für die Linke im Landtag sitzt. Offen und friedlich diskutieren hier zwei Menschen mit extrem gegenteiligen Positionen. Schließlich muss der Thor-Hammer-Liebhaber nach Hause: Morgen früh um sieben wird geschafft. Zum Abschied flüstert ihm sein Trink- und Diskussionskumpane fast liebevoll zu: „Und bleib kein Nazi.“ Der hört es nicht.

Holzgetäfelte Decken, schwere Möbel und Oldies – im Studentenklub Schmiede sitzen nur Männer

Später wird der verbliebene erzählen, dass er hier nicht sein will. 40 Jahre alt sei er, 1997 wollte er studieren. In Leipzig. Aber das sei nicht gut gegangen. Was ihn nach Jena verschlagen hat, möchte er nicht sagen. „Nach Lobeda zieht man nicht, hier landet man.“ Als ob es ein Gefängnis wäre.

Termin bei Ortsteilbürgermeister Volker Blumentritt. Der Gewerkschafter und Betriebsrat empfängt in seinem Büro im Stadtteilzentrum Lisa. Blumentritt ist seit 18 Jahren ehrenamtlicher Ortsteilbürgermeister, gewählt am 27. September 1998. Das Amt gibt es seit genau diesem Tag. Geschaffen durch ihn, der den Antrag bei der Stadt Jena stellte und der erste Ortsteilbürgermeister Deutschlands wurde. Er lebt für diese Sache. Das Selbstmachen ist ihm wichtig, stolz zeigt er eine Urkunde von 1979. Er hat geholfen die Stadt schöner zu machen, wird ihm da bescheinigt.

Dann redet er von seinen Erfolgen. Der NSU sei ja ziemlich schnell aus Lobeda abgehauen und die Drohungen von Neonazis, die ihn gerne hängen sehen würden, wischt er mit einer Geste vom Tisch: „Da sind Leute neidisch.“ Stattdessen erzählt er, wie er mit Franz Müntefering den Tunnel, der Lobeda viel lebenswerter machen sollte, klar gemacht hat; wie neue Arbeitsplätze Lobeda attraktiver werden lassen, wie Pflegeheime, ein Hospiz, Kindergärten, Rentnerresidenzen gebaut werden sollen.

Es sind viele Facetten, die Lobeda ausmachen. Da ist die vermeintliche Studentenkneipe, die eigentlich eine ganz normale Stadtteilkneipe ist, in der Rechte mit Linken diskutieren und alte Männer Abende verbringen. Da sind die Hunde- und Balkonbesitzerinnen, denen es gut geht und die trotzdem in alten Zeiten schwelgen. Und da ist der Ortsteilbürgermeister, der in die Zukunft schauen muss, eben weil die alten Zeiten nicht nur gut waren.

Da ist viel, was man von der Autobahn aus nicht sieht.