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Archiv-Artikel

Hat die EU den Friedensnobelpreis wirklich verdient?

EHRUNG Am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte und Todestag Alfred Nobels, wird der EU der Friedensnobelpreis 2012 verliehen

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Ja

Wolfgang Grenz, 65, ist deutscher Generalsekretär von Amnesty International

Die EU hat den Friedensnobelpreis verdient, wenn sie ihn als Verpflichtung für die Zukunft versteht. Der Preis muss Ansporn sein, die Menschenrechtspolitik, insbesondere die Asyl- und Flüchtlingspolitik, konsequent zu betreiben. Die EU könnte mit ihrer Antirassismusrichtlinie die Diskriminierung der Roma in den Mitgliedstaaten entschlossen bekämpfen. Für die Außenpolitik hat die EU eine beeindruckende Menschenrechtsstrategie beschlossen. Die muss sie jetzt konsequent umsetzen. Denn bisher geben die EU-Staaten ihre menschenrechtlichen Ziele zu schnell auf, wenn Wirtschafts- oder Sicherheitsinteressen im Spiel sind.

Rebecca Harms, 56, Die Grünen, ist Mitglied des Europäischen Parlaments

Die Entscheidung scheint überraschend und gewagt, gerade in diesen Zeiten, in denen das Europäische Projekt – zu Unrecht – zum Synonym von Krise wird. Das Komitee hat groß gedacht und die Bürgerinnen und Bürger der EU und die Politik gefordert und ermutigt, sich den europäischen Weg zu vergegenwärtigen. Nie würde ich behaupten, diese Europäische Union sei perfekt. Aber der Europäische Weg ist von Beginn an ein einzigartiger Einigungs- und Friedensprozess! Wir sollten den Preis ernst nehmen auch zur Vergewisserung: Der Europäische Weg ist begründet in dem Ziel, nationale Grenzen und Begrenzungen zu überwinden.

Presley Antoine, 53, Taxiunternehmer, ist Botschafter der Initiative „Ich will Europa“

Seit über 33 Jahren lebe ich als Europäer in Deutschland. Ich habe den Kalten Krieg miterlebt, die Mauer, die deutsche Wiedervereinigung, die Einführung des Euro und die Erweiterung der EU um zehn Mitgliedstaaten. Es war immer friedlich. Wenn ich über politische Unruhen und Kriege in anderen Ländern der Welt lese, sage ich: Ja, die EU hat es verdient, so eine bedeutende internationale Auszeichnung zu erhalten. Der Nobelpreis für die EU ist ein Zeichen: Sie ist Vorbild für den Frieden und den Zusammenhalt der Welt.

Christoph Schmidt, 50, ist einer der „Fünf Wirtschaftsweisen“ Deutschlands

Wenngleich man darüber diskutieren kann, ob man einer so komplexen Institution und nicht einzelnen Personen den Friedensnobelpreis verleihen sollte, beantworte ich die Frage mit einem klaren „Ja“. Denn die europäische Integration hat großen Anteil daran, dass meine Generation Krieg eigentlich nur vom Hörensagen und vom Geschichtsunterricht her kennt. Zudem können wir durch das gemeinsame Auftreten der ganzen Welt europäische Werte, europäische Vorstellungen von Menschenrechten und von einem friedlichen Zusammenleben demonstrieren. Deshalb hat die EU auch den Friedensnobelpreis verdient.

Philipp Klein, 24, Biologiestudent, kommentierte unsere Frage per E-Mail

Ich finde, dass die EU eine tolle Sache ist. Was war denn Europa früher anderes als ein einziges Schlachtfeld, wo sich größenwahnsinnige Monarchen gegenseitig die Köpfe eingeschlagen haben – so wie heute im Nahen Osten? Und die ganzen Leute, die jetzt über die Auszeichnung meckern, nehmen einfach den Frieden als selbstverständlich an. Natürlich hat die EU den Friedensnobelpreis verdient.

Nein

Sahra Wagenknecht, 43, ist Stellvertretende Vorsitzende der Partei Die Linke

Die EU ist der größte Waffenexporteur der Welt. Sie verpflichtet ihre Mitglieder zur Aufrüstung und führt Militär- und Kriegseinsätze. Sie profitiert von der Ausplünderung von Rohstoffen und schottet sich gegen die Opfer ihrer Politik ab: Allein 2011 ertranken 1.500 Flüchtlinge im Mittelmeer. Die EU ist ein Projekt der Reichen und Konzerne: Bankenrettungen und soziale Kürzungsorgien sorgen für Umverteilung von unten nach oben. Die EU als „Friedensprojekt“ zu ehren führt die Idee des Friedensnobelpreises ad absurdum.

Fredrik Heffermehl, 73, norwegischer Jurist, schrieb „The Nobel Peace Price“

Einen Friedenspreis für die EU? Gern. Den Friedensnobelpreis? Eine andere Frage. Die EU ist keiner der „Friedensverfechter“, die Alfred Nobel in seinem Testament beschrieb. Die EU setzt sich nicht für Alfred Nobels Ideal einer entmilitarisierten „Völkerverbrüderung“ ein. Stattdessen fördert sie Waffenproduktion und militärische Stärke, den Gegensatz zur Friedensbewegung, die Nobel unterstützen wollte. Das Parlament Norwegens missbraucht Nobels Namen, Geld und Prestige. Es ist schlicht rechtswidrig, die von Nobel genau beschriebene Friedensvision zu ignorieren und den Preis in einen generellen Friedenspreis umzudefinieren.

Tanja Ostojić, 40, ist Künstlerin und bekannt für ihr Foto „EU-Unterhose“

Nobelpreis wofür? Dafür, dass Frankreich jährlich 10.000 Roma, EU-Bürger, abschiebt? Oh nein, das kann nicht sein. Dafür, dass Deutschland 20.000 Roma, keine EU-Bürger, nach Serbien und in den Kosovo abschiebt? Oh nein, das kann nicht sein. Für all die in die Illegalität gedrängten, ausgebeuteten Nicht-EU-Bürger hier? Oh nein, das kann nicht sein. Dafür, dass Deutschland und Frankreich Waffen für mehr als drei Millionen Euro an Griechenland verkaufen, als „Deal“ dafür, dass sie dem Land Geld geliehen haben? Oh nein, das kann nicht sein. Das klingt wie ein schlechter Scherz.

Swetlana Gannuschkina, 70, russische Aktivistin, engagiert sich für Flüchtlinge

Die EU ist mittlerweile unübersichtlich geworden. Das Niveau der Menschenrechte unterscheidet sich in den einzelnen Mitgliedstaaten stark. Es ist nicht gelungen, ein einheitliches Rechtssystem zu etablieren. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben eine Reihe – für meine Begriffe unzulässigen – Militäroperationen auf dem Gewissen, die zum Tod von Tausenden Menschen geführt haben. Den Friedensnobelpreis sollte man gezielter an Menschen und Organisationen für deren konkrete Wirkung oder Taten verleihen. Der diesjährige Preis ist an nichts und niemanden gegangen.

Bernd Kasparek, 32, ist im Netzwerk Kritische Grenzregimeforschung aktiv

Das Komitee begründet den Nobelpreis für die EU vor allem mit dem Frieden in Europa. Das hat einen eurozentrischen Beigeschmack. Es gab keinen echten Bruch mit dem Erbe des Kolonialismus. Das zeigt sich auch am Umgang mit den postkolonialen ProtagonistInnen der Migration. Das Sterben an den Grenzen Europas ist nur die offensichtliche Tragödie. Die kommenden BürgerInnen Europas betreten einen Raum der hierarchisierten Rechte, der Grenzen und der Ausgrenzung. Obama, EU: In Oslo ist Krieg Frieden.