: Profiteure der Armutsmigration
Der Migranten-„Ansturm“ auf Spaniens Exklaven in Nordafrika kommt der EU gelegen: Er illustriert die Behauptung, dass Millionen Afrikaner nach Europa kommen wollen
Ein Sturm, genauer gesagt ein „Massenansturm“ ist in den letzten Wochen hinweggefegt über Ceuta und Melilla – fast wie ein Hurrikan scheinen die Einwanderer aus dem südlichen Afrika nachts über die Grenzzäune der beiden spanischen Exklaven hergefallen zu sein. Und dieser Sturm kündigt offenbar die weitaus größere Klimaverschiebung an. Denn gleich warten die Medien mit Zahlen auf: 25.000 Flüchtlinge wurden in diesem Jahr schon in Marokko aufgegriffen, behaupten die marokkanischen Behörden; ein halbe Million Zuwanderer aus dem Süden halten sich nach „algerischen Quellen“ derzeit im Land auf; und schließlich: 18 Millionen Afrikaner befinden sich nach UN-Angaben auf dem Weg nach Norden.
Nun sind solche Zahlen höchst zweifelhaft. Sie dienen den Interessen von Staaten und anderen Organisationen. Zudem ist Statistik angesichts der Verhältnisse in vielen afrikanischen Ländern eine euphemistische Beschreibung für Schätzung. Und so ist besagter „Ansturm“ auch kein „natürliches“ Ergebnis des Einwanderungsdrucks. Kaum einmal taucht in den Reportagen die Frage auf, wie es logistisch möglich war, dass Migranten aus ganz verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen sich zu hunderten zusammenschließen konnten, um dann – unbemerkt von der marokkanischen Polizei – die Grenzen der spanischen Städte zu überqueren.
Gewöhnlich wird eine gut organisierte „Schleusermafia“ vermutet, deren Netz offenbar ganz Afrika umfasst – so eine Art al-Qaida der Migration. Die Antwort lautet jedoch anders: Die Stürmenden waren nicht die Vorhut von 18 Millionen, sondern es handelte sich um eine überschaubare Zahl von Personen – zwischen 1.500 und 3.000 –, die sich größtenteils schon länger in Marokko aufhielten, an bestimmten Orten im Land konzentriert und deshalb auch organisiert waren.
Wer kürzlich mal von Melilla nach Tanger gefahren ist, dem werden die Migranten aus dem südlichen Afrika aufgefallen sein: Viele von ihnen standen grüppchenweise am Straßenrand und deuteten den vorbeifahrenden Autos mit der Hand das Zeichen für Essen an – in der Hoffnung auf ein paar Dirham. Die meisten lebten in der Nähe – im Wald von Bel Younes nahe Ceuta. Andere lebten auf dem bewaldeten Hügel Gourougou über Nador, der marokkanischen Stadt gleich vor Melilla. Wieder andere in einem Hügel vor Oujda an der Grenze zu Algerien. Der Treffpunkt tagsüber in Oujda war ein leeres Areal bei den Studentenunterkünften auf dem Campus der Universität – nur eine Mauer trennte die Migranten von einem Sportplatz.
Dort konnte man in Gesprächen erfahren, dass Oujda nicht nur deswegen eine Art Sammelstelle wurde, weil die Transitrouten nach Europa über Algerien verlaufen. Sondern auch, weil die marokkanische Polizei die meisten Schwarzen, die sie im Land aufgriff, im Niemandsland an der algerischen Grenze einfach aussetzte. Das hatte keinerlei rechtliche Grundlage, denn wegen Grenzschwierigkeiten zwischen den verfeindeten Nachbarn war und ist die Grenze zu Algerien geschlossen. Den Migranten blieb gar nichts anderes übrig, als sich wieder nach Oujda durchzuschlagen.
In den selbst gebastelten Lagern an den drei Orten waren die Verhältnisse verheerend. Es gab im Grunde keine Unterkünfte – nicht zuletzt, weil die marokkanische Polizei regelmäßig vorbeischaute, um notdürftig aufgespannte Planen zu zerstören. Sogar Decken wurden verbrannt – und in Oujda kann es selbst im Frühjahr empfindlich kalt werden. Daher waren viele Personen krank – und eine Gesundheitsvorsorge gab es nur aufgrund der sporadischen Besuche von Médecin sans frontières.
Die Leute konnten weder vor noch zurück. Der Weg nach Europa übers Meer ist aufgrund der in den letzten Jahren verbesserten Kontrollen fast verschlossen. Von der marokkanischen Bevölkerung wurden die Leute denunziert, ausgenommen und sogar bestohlen – viele Marokkaner wussten, dass die Migranten von ihren Familien Geld für die Schleuser bekommen hatten. Zurück in die Heimat ging es auch nicht; zu mühselig war der Weg nach Marokko. Ein Mann aus Mali meinte: Wenn es einen Flug nach Bamako gäbe, ich würde ihn nehmen; so habe ich mir das Leben bestimmt nicht vorgestellt. Nur wollte diesen Flug niemand bezahlen.
Aufgrund solcher Bedingungen war der Organisationsgrad der Schwarzen sehr hoch – wie ein Bericht der französischen Menschenrechtsorganisation Cimade aus dem Jahr 2004 gezeigt hat, wählten die Migranten je nach Herkunft Sprecher, die ständig miteinander berieten. Der „Ansturm“ war nur möglich, weil eine begrenzte Anzahl von Transitmigranten eine gute Selbstorganisation besaßen – und gleichzeitig so verzweifelt waren, dass sie in diesem Sturm ihre letzte Möglichkeit sahen.
Und die marokkanische Polizei? In den Wäldern von Bel Younes war die Polizei präsent – auch tagsüber. Der Weg zu den Enklaven führt auch über offenes Gelände. Es ist also völlig unmöglich, dass die Polizei die tagelangen Bewegungen von hunderten von Personen nicht bemerkt hat. Daher muss man davon ausgehen, dass dieser Ansturm politisch gewollt war – die marokkanische Monarchie möchte gerne enger in die Partnerschaft mit der Europäischen Union einbezogen werden: Sie will Geld, Kontakte, Kooperationen. Und so benutzt sie die Migranten als Druckmittel – ganz ähnlich wie es Oberst Gaddafi in Libyen getan hat. Derweil ist sich die EU im Namen der Sicherheit nicht zu schade, auch mit den fiesesten arabischen Potentaten gemeinsame Sache zu machen. So schiebt Spanien die Migranten nun zurück nach Marokko – und nimmt damit bewusst in Kauf, dass sie an der Grenze zu Algerien landen.
Tatsächlich kommt der „Ansturm“ der EU politisch nicht ungelegen: Die nächtlichen Szenen sind eine willkommene Illustration der Behauptung, dass dort draußen Millionen von perspektivlosen Afrikanern nur auf eine Gelegenheit warten, nach Europa zu kommen. Zweifellos gibt es solche Personen – und ihre Motive muss man gar nicht moralisch aufladen: Die meisten wollen einfach ein besseres Leben. Aber ihre Zahl wird schamlos überschätzt. In etwa so wie die der Polen, die angeblich nach der Freizügigkeit Westeuropa überschwemmen wollten.
Der „Ansturm“ ließe sich leicht verhindern – durch eine demokratische, transparente Einwanderungspolitik, also durch ein legales Verfahren, nach Europa zu kommen. Schließlich will Europa ja Einwanderung – aber nur in Form einer klandestinen Masse von „Illegalen“. Denn die ist politisch rechtlos. Und kann immer als Bedrohungsszenario herhalten, wenn Politiker sich als starke Männer und Frauen inszenieren wollen: Wir werden hart durchgreifen. Nun sollen wieder einmal die Zäune verstärkt und erhöht werden. Dabei sind es genau diese Zäune, die für „Massenanstürme“ und „Illegale“ sorgen. Denn die Leute kommen sowieso. Wege nach Europa finden sich immer. MARK TERKESSIDIS