Hubert-Fichte-Reenactment in Berlin: „Schnee in Unterhose in Samen“

Vor 50 Jahren philosophierte der queere Autor Hubert Fichte im Hamburger Star-Club über bundesdeutsche Gegenkultur. Das HKW Berlin feierte das.

Der Schriftsteller Hubert Fichter zeigt seine Zunge

Hubert Fichte im Star-Club, Hamburg St. Pauli, 1962 Foto: Nachlass Leonore Mau, S. Fischer Stiftung

Tack, tack, tack. Man kann fast das Metronom danach stellen, wie Hubert Fichte die Wortsalven gleichmäßig, ruhig und doch kraftvoll aus seinem Mund feuert. Oktober '66, Hamburg, Star-Club: Fichte liest aus seinem Text „Die Palette“, dem später berühmt gewordenen Roman über die Kneipe, in der sich die Halbwelt zum Trinken trifft, in der die Gammler und Gesellschaftsverweigerer verkehren, deren Slang der Autor punktgenau trifft: „Pallee. Palais. Palädde“ nennen sie ihr Lokal. „Da schnallst du ab“, ist ein typisches Idiom der „Palettianer“, wie die Besucher genannt werden.

Es ist ein historisch gewordener Abend der deutschen Popkultur, vielleicht eine Initialzündung für die deutschsprachige Popliteratur. Fichte, damals bereits bekannter Schriftsteller, früherer Gruppe-47-Teilnehmer, inszeniert Lesung und Rock-’n’-Roll-Konzert zugleich (es spielen Ian & The Zodiacs und Ferre Grignard), und er liest aus einem Werk, in dem es um Subkultur, um Suff, (schwulen) Sex und Schlägereien geht – und damit um Jäcki und Igor und Loddl und Heidi und all die anderen. „Beat und Prosa“ nennt er den Abend.

Metronomgleich getaktet kommt das auch jetzt noch gut, 50 Jahre später, vorgetragen von Schauspieler Stephan Möller-Titel im kleinen Berliner Club Acud. Anlässlich des Jubiläums veranstaltet das Berliner Haus der Kulturen der Welt ein Reenactment mit Sounduntermalung von Ebba Durstewitz (JaKönigJa) und Carsten Trill.

„Ich bin ein kleiner Vagabund!“

Wenn der Fernseh- und Theaterschauspieler Möller-Titel sonor und mit Wucht liest, entfaltet der Text volle Wirkung, so gleich im Kapitel „Jäckis erster Besuch in der Palette“: „Er riecht: Gerüche in Gerüchen, Bier in Korn in Patra in Schnee in Unterhose in Samen in Teer in Rauch, schmeckt er Bier in Rauch, hört er Wörter in Wörtern, deutsche Wörter in der französischen Bitte um Fric in der deutschen Bitte um ein Bier in der deutschen Bitte um eine Miese, um einen Zwoling, hört er deutsche Geschichten in deutschen Geschichten, die Geschichte von der Bierflasche, die eine Schulter auftrennt in der Geschichte: Ich bin ein kleiner Vagabund! vor der Sitte (…)“

Das ist toll, wie Möller-Titel diese Verse, im dunklen Raum auf kleiner Bühne stehend, vorträgt. Spot auf ihn, auf den Schweiß auf der tiefen Stirn, auf die Strähne, die darüber fällt, auf die abgewrackte Lederjacke und die braune Cordhose. Der Sprecher gibt den Wörtern einen Groove, während Durstewitz und Trill, hinter dem Laptoppult verschanzt, diesen mit technoiden Klängen, Clicks ’n’ Cuts und Alltagsgeräuschen verstärken und dabei auf Macs, Effektgeräte und Megafon zurückgreifen. Bytes und Prosa.

Zuvor hatte man im Film „Palette revisited“ Ausschnitte aus der Originalaufzeichnung (und viele andere Hamburger Originale, super Film!) gesehen und Vorträge gehört. Stadtanthropologin Anja Schwanhäußer sprach über Hubert Fichte als Stadtethnologen – erhellend, denn Fichte war womöglich der erste Vermesser des urban-kulturellen Raums in Deutschland.

US-Beatgeneration als wichtiger Input

Drei Jahre geht er in der Kneipe in der ABC-Straße regelmäßig ein und aus, er schreibt als teilnehmender Beobachter mit. „Rumhängen als Form des Forschens“ nennt Schwanhäußer das, was einigen Zuhörern sympathisch erscheint – wobei selbstredend nach dem Rumhängen die Arbeit begann. Fichte arbeitete auch in der Folge viel mit soziologischen und literarischen Techniken, ähnlich wie Claude Lévi-Strauss.

Was so revolutionär ist an „Die Palette“? Fichte gehört neben Rolf Dieter Brinkmann und einigen anderen zu den ersten deutschsprachigen Autoren, die die amerikanische Beatgeneration als wichtigen Input begreifen. Pop und Literatur geht bei ihnen erstmals zusammen, Fichte etwa arbeitet viel mit Parallelismen, Aufzählungen, Reihungen sowie Neologismen und Komposita, die dem Text diesen Rhythmus und Flow erst ermöglichen. Und er gab das gesprochene hanseatische Kneipendeutsch eins zu eins wieder.

Subkulturen als Sujet gab es zuvor eher nicht. Und die Palettianer bildeten eine Subkultur, die sich von der Scham- und Disziplinargesellschaft BRD zu befreien suchte. Dazu passt, dass bei Fichte explizit schwuler Sex vorkommt, dass dessen Tabuisierung und Verbot immer wieder thematisiert werden. Interessant bei der Diskussion im Acud, dass die Orte der Gegenkultur auch real im „Underground“ verharren sollten: Den Kaschemmen, Hangouts und Jazzkellern folgten später die Technokeller. „Jäcki geht vier Stufen hinunter“, beschreibt Fichte dieses Abtauchen.

Der Tag im Acud zeigte, wie mühelos man diesen Text aktualisieren kann und wie er zugleich für diese bestimmte Epoche der postfaschistischen BRD steht, die einem wie ein Druckkessel erscheint, der sich dann 1968 – im Jahr des Erscheinens von „Die Palette“ – entlädt.

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