: Entwischt dem Hokuspokus
Minimal Music Die Wellenbewegung zwischen Raga und Duke Ellington: Der US-amerikanische Komponist Terry Riley gab in Berlin sein einziges Deutschlandkonzert
von Franziska Buhre
Einmal ausgestreut, verfangen sich diese Patterns einfach in der Großhirnrinde. So lässt die Musik von Terry Riley schlicht die Sinngebung beim Hören hinter sich, denn es gilt nicht mehr, Auf- und Abwärtsbewegungen, Pausen und Tempowechseln zu lauschen oder den Schluss eines Stücks vorauszuahnen. Stattdessen sorgen die auf dem Klavier vielfach wiederholten Muster für Eingebungen in Dauerschleife, weil sich Hören, Wiedererkennen und Überraschung unmittelbar ineinander verschieben. Und so steigert sich die Aufmerksamkeit Hunderter ZuhörerInnen am Dienstagabend in der Berliner Zionskirche wie von selbst.
Der 81 Jahre alte Riley ist der Doyen der US-amerikanischen Minimal Music aus der Trias mit den Komponisten Steve Reich und La Monte Young. Alle drei hatten in den 1960er Jahren damit begonnen, ihre Erkenntnisse aus Tonbandmanipulationen wieder auf akustische Instrumente zu übertragen und mit ihren eigenen Ensembles aufzuführen, Rileys Komposition „In C“ von 1964 wird heute als Schlüsselwerk der Minimal Music angesehen. Zum Abschluss seiner Europa-Tournee beehrte er nun die Hauptstadt in einem gemeinsamen Konzert mit seinem Sohn, dem Gitarristen Gyan Riley.
Riley senior tritt bescheiden auf, eine purpurrote Kappe krönt sein Haupt, die schlohweißen Bartsträhnen sind zum Zopf gebunden, er beginnt allein am geöffneten Flügel mit einer Phrase einfacher Akkorde. Darüber entfaltet er, mit leicht schütterer Stimme, einen melismatischen Gesang, in dem ein Vokal oder eine Silbe über lange melodische Bögen gleitet. Sein Gesang ist indischen Ragas entlehnt und spielt deshalb mit Nähe und Entfernung der Improvisation zu einer Form. Zwischen dem ersten, rhythmisch wiederholten Muster und der sich ausbreitenden Klangfläche entsteht eine Wellenbewegung.
In die Brandung
In diese Brandung wogt Gyan Riley mit der elektrischen Gitarre hinein, seine Griffe lassen die Tastenanschläge auf den Saiten widerhallen, mal gleichzeitig, mal ganz leicht verschoben oder als eigenständige Variation. Mit dem verlässlichen Kontinuum breitet sich eine friedliche, fast weihevolle Atmosphäre im gesamten Kirchenschiff aus, wodurch sich die Grenze zu reizreduzierter Musikuntermalung, die sicher viele der Anwesenden aus Yogastudios und allerlei esoterischen Beglückungsszenarien kennen, verflüssigt.
Doch Terry Riley entwischt dem allzu gefälligen Hokuspokus immer wieder, indem er behände völlig unerwartet die Strömungsgeschwindigkeit erhöht und melodische Versatzstücke querfeldein auf den Terrains verschiedener musikalischer Genres auswildert. Aus dem berühmten Jazzstandard „Caravan“ von Duke Ellington, welchem diese merkwürdig exotische Stimmung eigen ist, schöpft Terry Riley den harmonischen Vorrat, reduziert ihn zu Patterns oder verteilt ihn auf weit voneinander entfernte Koordinaten, denen wiederum neue Verästelungen im Minimal-Modus entwachsen. Zum Schluss setzt er das Titelmotiv wieder zusammen, aber enthält den letzten Ton vor.
In einem Solo auf der Akustikgitarre zeigt Gyan Riley, welche Bandbreite an Stilen ihm zur Verfügung steht, von argentinischer Milonga bis zu spanischem Flamenco, auf der elektrischen Gitarre erzeugt er einen Theremin-Effekt oder besticht bei hohem Tempo mit groovigem Fingering. Leider säuft der Gitarrensound im Bauch des Flügels förmlich ab, die Akustik der Kirche ist insgesamt eher undankbar. Und der Sinn der Projektionen von wandernden Feuerballons an die Decke erschließt sich auch nicht recht. Das internationale und vorwiegend junge Publikum besann sich nach den musikinduzierten Abschweifungen in sphärische Gefilde schnell und sprang zu Standing Ovations auf.
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