Stadtgespräch: Diese Völkermorde
Wie der neue Film „Smolensk“ über den Tod von Präsident KaczyŃski vor sechs Jahren die Polen verrückt macht
Gabriele Lesser aus Warschau
Verschwörungstheorien, Heldenmythen und Propaganda – das ist der Stoff, aus dem Polens rechte Regierungspartei 'Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eine neue Staatsreligion schaffen will. So sollen Polens Bürger glauben, dass „die Russen“ am 10. April 2010 einen Anschlag auf den damaligen polnischen Präsidenten Lech Kaczyçński verübt hätten. Der Propagandafilm „Smolensk“ von Antoni Krauze, in dem drei Explosionen die Präsidentenmaschine zerreißen, soll auch Schulkindern gezeigt werden. „Dieser Film zeigt die Wahrheit“, behauptete nach der Premiere Jarosław Kaczyński, PiS-Chef und Zwillingsbruder des Verunglückten. „Das ist unerhört wichtig. Ich lade jeden Polen ein, der die Wahrheit kennenlernen will, sich diesen Film anzusehen.“
Ein Kassenschlager ist der Film bislang nicht. Innerhalb von zwei Wochen haben ihn rund 200.000 Polen gesehen. Damit liegt er an 18. Stelle aller diesjährigen Filmpremieren.
„Furchtbar“, stöhnt ein fast kahlköpfiger Kinogänger in abgewetzter Lederjacke. Er hat sich den Film zusammen mit seinem 19-jährigen Enkel Janek angesehen. „Schlimmer, als ich dachte! Eine Katastrophe.“ Janek sieht das etwas anders. Er rülpst zur Seite und wirft die leere Cola-Plastikflasche in hohem Bogen Richtung Mülleimer. „Mann, Opa, der Film ist doch toll. Zu lang natürlich. Eine Stunde weniger hätte auch gereicht. Zuviel Bla-bla. Aber die Special Effects? Bom-ben-geil!“ Sein Großvater deutet missbilligend auf die Colaflasche, die neben dem Eimer gelandet ist. Janek schlurft hin, um sie aufzuheben, springt dann aber mit voller Wucht auf die Flasche: „Crash, bum, kaputt!“ Er lacht und lässt sie in den Abfalleimer plumpsen: „Das Wrack, die Toten – entsorgt!“ Zdzisław Król seufzt und schüttelt den Kopf: „Ich brauche jetzt einen Wodka. Das ist ja nicht auszuhalten.“
Vor der Rolltreppe nach unten ins Einkaufszentrum Goldene Terrassen hält sich eine weißhaarige Frau mit Stock auf. „Hallo Zdzisław, warst du in ‚Smolensk‘? Wie ist der Film? Ich will mir gerade Karten für ‚Wołyń‘ holen. Da sollen sie die Wahrheit über den Völkermord der Ukrainer an uns Polen zeigen.“ Großvater Zdzisław zieht eine Grimasse und deutet auf das Plakat von Woody Allens „Cafe Society“: „Dieser ganze neue Patriotismus bringt mich noch um. Ich will aber noch ein bisschen leben. Kommt Ihr mit? Nächste Woche – Woody Allen? Und dann ins Hard Rock Cafe!“
Janek nickt: „Aber in 'Wołyń Wollny gehen wir auch noch! Mann, Opa! Diese ganzen Völkermorde an uns Polen! Höchste Zeit, dass wir endlich die Wahrheit erfahren!“ Die weißhaarige Dame pflichtet ihm bei: „Katyn, Wołyń, Auschwitz, jetzt auch noch Smolensk! Es sind immer die Gleichen, die uns Polens nach dem Leben trachten.“ Zdzisław will sie unterbrechen, doch sie fährt laut fort: „Ich gebe schon seit Jahren keinem Deutschen, Russen oder Ukrainer mehr die Hand! Das sind alles Verbrecher, Verbrecherkinder und Verbrecherenkel!“
Der alte Mann atmet tief durch. „In Smolensk, das war kein Anschlag! Die Russen wollten im Gegenteil endlich bessere Beziehungen mit uns Polen haben. Aber dann war da der dichte Nebel, Kaczyński wollte unbedingt landen, unsere Piloten machten Fehler, die russischen Lotsen machten auch Fehler – und so kam das ganze Unglück zustande.“ Janek grinst und krempelt den linken Ärmel seines Sweatshirts auf: „Hier habe ich mir vor Kurzem den ‚Kleinen Aufständischen‘ eintätowieren lassen.“ Stolz zeigt er das militaristische Tattoo. „Und da“, ruft er und fasst sich an den anderen Oberarm, „da kommen demnächst die Explosionen von Smolensk hin!“
In Wirklichkeit gab es damals vor sechs Jahren keine Explosionen an Bord des Flugzeuges. Zu diesem Ergebnis kamen bislang alle Untersuchungen. Vielmehr flogen die Piloten trotz russischer Nebelwarnung den geschlossenen Militärflughafen bei Smolensk an. Auf polnischen Wunsch hin hatten die Russen den Flughafen noch einmal geöffnet. Denn Donald Tusk, Polens damaliger Premier, war drei Tage vorher hier gelandet – allerdings bei Sonne und klarem Wetter.
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