ARNO FRANK über GESCHÖPFE : Die Folterung mit der Maus
Jeder von uns ist in der Lage, wirklich entsetzliche Taten zu begehen
Wenn wildfremde Menschen miteinander mal lebhafte Gespräche über Politik führen, dann ist das sehr erfreulich. Leider auch sehr selten. In Deutschland beispielsweise geht es nur dann, wenn alle einer Meinung sind und Deutschland gerade mit Tempo 250 am Fenster vorbeirauscht. Wie gestern, im ICE von Berlin nach Basel, als sich zwischen einer Studentin, einem Pensionär, einem Polizeibeamten und mir eine vielversprechende Diskussion anbahnte.
Noch ehe sich die Türen schlossen, hatten meine Mitreisenden auf dem Titelblatt meiner Boulevardzeitung ihr Thema gefunden: „Marokko schickt afrikanische Flüchtlinge in die Wüste“. Kaum war der Zug angefahren, war auch schon der Konsens gefunden: „Die armen Leute!“, seufzte die Studentin. „Eine Riesensauerei ...“, pflichtete ihr der Bulle bei, und der Pensionär ergänzte kopfschüttelnd: „Folter“.
Es folgte eine freundlich interessierte Stille, in der nun auch von mir ein wenig Empörung erwartet wurde, nur ein kleines Zeichen der Menschlichkeit gegen eine Welt aus Armut, Folter und Terror. Ich aber schwieg ...
Zehn Jahre wird es wohl her sein, da teilte ich mir mit meinem Freund Sebastian eine heruntergekommene Altbauwohnung im dritten Stock eines heruntergekommenen Miethauses in einem heruntergekommenen Stadtteil von München.
Okay, wir spülten unser Geschirr nicht schon während des Essens ab. Gut, am Heizkörper neben dem Klo blühte ein der Flugrost genau dort, wo selbst den sorgfältigsten Stehpinklern mal was daneben gehen kann.
Mit bösem Willen hätte man die Wohnung eine typische „Männer-WG“ nennen könnte. Taten wir aber nicht, sondern fühlten uns wohl. Aus der Küche konnte, wer mutig oder betrunken genug war, auf einen rostigen Balkon treten, der malerisch in einen von Efeu überwucherten Innenhof hinausragte.
Und am Anfang rätselten wir noch, woher diese merkwürdigen Häufchen aus klitzekleinen weißen Körnern rund um das Nutella-Glas stammen könnten. Wir fanden sie jeden Morgen, rätselten, kehrten sie weg, und anderntags waren sie wieder da. Ein Wunder? Ein Zeichen? Oder doch eine Maus, die sich jede Nacht in nagender Kleinarbeit durch den festgeschraubten Plastikdeckel arbeitete?
Vorsorglich stellten wir hinter den Küchenmöbeln eine Mausefalle auf. Keinen dieser fiesen Genickbrecher, sondern einen kleinen Drahtkäfig, aus dem uns bald tatsächlich der illegale Einwanderer zuzwinkerte: „Mus musculum“, eine braune Hausmaus, die aus Sehnsucht nach Nutella nachts das Efeu heraufgeklettert war und auch harte Arbeit nicht scheute.
Wir ermahnten die Maus, trugen sie in den Garten – und hatten sie morgens wieder in der Falle sitzen. Wieder trugen wir sie in den Garten, wieder tauchte sie in der Falle auf. So ging das etwa eine Woche lang, und jeden Morgen saß wieder dieselbe Maus in ihrer verdammten Falle.
Irgendwann fand ich sie nicht mehr so niedlich und tapfer. Mäuse verbreiten gefährliche Krankheiten. Salmonellose und Cholera. Darüber hinaus vernichten und verunreinigen sie Lebensmittel und Futterbestände. Sie nagen sich, lernte ich, auch durch Papier, Kartons, Leder, Textilien, Kunststoffisolierungen, Böden, Türen und Kabel. Aus Brehms Tierleben erfuhr ich: „Ihre hauptsächliche Schädlichkeit beruht in dem abscheulichen Zernagen wertvoller Gegenstände“.
Es musste etwas geschehen. Töten wollte ich sie nicht. Aber ihr eine Lektion erteilen. Irgendwann musste sie es doch lernen. Eines schönen Sommermorgens, als die Maus in ihrer Lebendfalle wieder einmal vergnügt darauf wartete, dass einer der beiden Trottel sie nach unten transportierte, stellte ich sie statt dessen vor die Tür. Auf den Balkon. In die Sonne. Als ich abends wiederkam, schien sie sehr schläfrig. Unten im Garten dann schlich sie, deutlich verstimmt, benommen ins Unterholz und ward nie mehr gesehen.
Ich hatte sie nicht töten müssen, sie hatte die Lektion verstanden. Gestern erst, im Zug, ist mir klar geworden, dass ich sie gefoltert habe.
Fotohinweis: ARNO FRANK GESCHÖPFE Fragen zur Folter? kolumne@taz.deMorgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN