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Die Kolonnen der BRD

Archiv Von der alten und neuen Werktätigkeit handeln zwei Spielfilme im Zeughauskino und der Brotfabrik

Für „Schneeglöckchen blühn im September“ aus dem Jahr 1973 wurden einige Protagonisten direkt an deren Arbeitsstätten aufgelesen Foto: Basis-Film

von Carolin Weidner

Ein feines Stück Fleisch hat Akkordarbeiter Ed Malchow (Wolfgang Liere) seiner Verlobten gebrutzelt. Nun begeben sich beide ins Wohnzimmer, um es sich schmecken zu lassen. Zuvor hatte sich Ed noch ausgiebig mit dem Paar Brüsten seiner Angetrauten beschäftigt und die Hoffnung laut werden lassen, das Fleisch könnte von ähnlich hoher Qualität sein. Doch die nette Stimmung vor mauscheligem Seventies-Dekor kippt schnell: Ein lange im Voraus geplanter Besuch bei den Schwiegereltern in spe fällt ins Wasser, weil Ed Schichten schrubben muss.

Die Situation im großen Industriebetrieb ist angespannt, insbesondere in Eds Kolonne – den Kesselbauern. Der Wegfall eines Kollegen hatte den Auftakt zu Tarifstreitigkeiten gegeben, die sich bald über das gesamte Werk erstreckten und in erregte Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern, Betriebsrat und Geschäftsführung mündeten. Die Kernfrage, die in den Kolonnen zirkuliert und die Belegschaft spaltet, ist diese: Aufmucken und negative Konsequenzen riskieren oder den Kopf in den Sand stecken, um Stellen zu halten, solange es sie noch gibt.

Aus Klaus Wieses und Christian Ziewers Feder stammt dieser Plot, der im Arbeiterfilm „Schneeglöckchen blühn im September“ aus dem Jahr 1973 in ganzer Länge bestaunt werden darf und der an den Abenden zwischen dem 9. und 14. September im Brotfabrikkino gesichtet werden kann. Einige Protagonisten des Films, deren ausgesprochene Markigkeit große Freude verbreiten, hat das Duo Wiese und Ziewer übrigens direkt an deren Arbeitsstätten aufgelesen. Wolfgang Liere zum Beispiel. In einem Zeitungsartikel, der noch vor der Premiere von „Schneeglöckchen blühn im September“ im Mannheimer Morgen zu lesen war, sagt der damals 32-Jährige: Da „kamen zwei kaputte Typen mit einem kaputten VW zu mir.“ Liere hat zu der Zeit mit Gummi zu tun, ist nach eigener Aussage „Europas größter Einmannbetrieb für Autoreifen“. Und Ziewer und Wiese wissen sofort: „Das ist Ed.“ Im Drehbuch hatten ihn beide folgendermaßen charakterisiert: „Ed hat das Auftreten eines selbstsicheren Sportmannns, der sich selbst recht gut als einen zweiten Steve McQueen vorstellen kann. Er findet, dass er ein toller Hecht ist, einer, den alle mögen, weil er ein prima Kumpel ist.“

„Drücker“ ist ein wundersames Spottgedicht auf unsinnige Arbeitswelten

Ein nicht ganz so prima Kumpel ist Hugo (Frithjof Vierock) in Franz-Josef Spiekers Satire „Drücker“ von 1970, am 9. und 11. September im Zeughauskino zu sehen. Trotzdem wird das blonde Bübchen von allen Seiten bekümmert. Ob es daran liegt, dass Hugo mit seiner neuen Anstellung – Vertreter für Magazine und Zeitschriften, später auch für Lexika – so nah am Geist der weltoffenen, allseits interessierten neuen Bundesrepublik agiert? Selbst die emanzipierte, Zigarre rauchende Gitte (Margarethe von Trotta) kann etwas an Hugo finden, der mit keckem Hütchen und noch keckerem Grinsen von einer Tür zur nächsten zieht. Die Organisationsform ist übrigens auch hier die der Kolonne: Gemeinschaftlich fahren die jungen Geschäftsleute von einem Ort zum nächsten, um sich nach hoffentlich reichlichen Abonnement-Abschlüssen beim wohlverdienten Abendessen im Gasthof wiederzutreffen. Spieker, Unterzeichner des Oberhausener Manifests und 1978 nur 44-jährig bei einem Dreh auf Bali verstorben, benutzt seinen farblosen Hugo als Schlüssel, der in alle möglichen, gewöhnlich-absurden Situationen dringt. Besonders schön gelingt ihm das bei Hugos aktueller Mission: Meterweise Lexika sollen an eine Bilderbuchfamilie im nigelnagelneuen Einfamilienhaus gebracht werden.

Doch schon das Auffinden der Familie gerät zum Problem, denn den Apolloweg, wo der künftige Lexika-Besitzer wohnen soll, kennt in der Ortschaft kein Mensch – das übliche Schicksal neu bebauter Gegenden, in denen plötzlich klangvolle neue Straßennamen aus dem Boden schießen. Endlich angekommen, erwartet Hugo eine überengagierte Hausfrau (Rosemarie Fendel), ein Wikingerhelm tragendes Kleinkind und das freche Söffchen (Carola Rabe), Familie Dietrichs aufmüpfig-aufreizende Teenagertochter. „Drücker“ ist ein wundersames Spottgedicht auf die Erschließung neuer, unsinniger Arbeitswelten. Ein noch offener Markt soll schnellstmöglich und möglichst gewinnbringend „dichtgemacht“ werden, eine olle Fernsehzeitschrift wird vor diesem Hintergrund zur Verkündigung. Da wirken Ziewers Arbeiter beinahe prähistorisch.

„Schneeglöckchen blühn im September“ (1973): Brotfabrik, 9.–14. 9., 18 Uhr

„Drücker“ (1970): Zeughauskino, 9. 9.,19 Uhr & 11. 9.,20.30 Uhr

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