Ihm guckte man direkt ins Herz

Foto: label

Als ich Rio Reiser zum ersten Mal gehört habe, war ich auch zum ersten Mal überhaupt tief berührt von deutschsprachigem Songwriting. Ich habe viel Dylan, Elvis Costello und David Bowie gehört, aber wenig Deutschsprachiges. Bis ich irgendwann Ton Steine Scherben und Rio entdeckte. Es hat mich total mitgenommen, dass man auf Deutsch so schreiben kann. Aber er hat auch, von der Sprache abgesehen, Qualitäten im Songwriting.

Rio hat immer viel Soul; zum einen im engeren Sinne von Seele verstanden, aber er spielte auch so eine Art deutschen Soul durch die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, die in seinen Songs lag. Beim ersten Hören hatte ich das Gefühl, dem guckt man direkt ins Herz.

Seine Songs klingen teils gospelartig, es ist eine ungeheure Kraft und Wucht dahinter. Er blieb bei sich – und machte gleichzeitig über Jahrzehnte hinweg Karriere im Pop. Einfach war das bestimmt nicht.

Die Scherben und Rio sind ein gutes Beispiel dafür, dass man viele Aspekte in einem Werk, in einem Song vereinen kann: Humor und Herz, Wut und Verletzlichkeit, politisches Bewusstsein und persönlichen Schmerz. Kein Entweder-oder. Als Teenie habe ich auf der Gitarre Rio-Songs nachgespielt. „Komm schlaf bei mir“ habe ich öfter gespielt, da gibt es diese wunderschönen Zeilen: „Ich bin nicht unter dir, / ich bin nicht über dir, / ich bin neben dir“. Aber der Übersong schlechthin für mich ist „Land in Sicht“.

Dass Rio im Jugendalter so dermaßen bei mir eingeschlagen hat, hat vielleicht mit einer Berlinsehnsucht zu tun. Ich bin in Berlin geboren und dann nach Freiburg im Breisgau verschifft worden, weil man dachte, das sei gut für ein mickriges, asthmatisches Berliner Kind, wie ich es damals war. All meine Freunde lebten aber in Berlin. Bei vielen Zugfahrten bekam ich Herzrasen, wenn wir uns Berlin näherten. Für mich ist ganz Berlin oder zumindest Kreuzberg mit Rio Reiser und den Scherben verbunden.

Als Rio gestorben ist war ich 19. Es gibt ganz wenige Künstler, bei deren Tod ich nicht anders kann, als anhaltend zu trauern. Bei David Bowie ist es bis heute so, und bei Rio war es auch so. Beide waren auf jeden Fall noch echte Rockstars – in einer Zeit, in der die Stars noch schiefe Zähne haben durften.

Judith Holofernes, 39, ist Sängerin der Band Wir sind Helden, Songwriterin und Autorin