: Eine Stimme wie zig Leben
Für mich war Rio Reiser ein Freund. Ein richtiger Freund. Es gibt nicht so viele echte Leute im Showbusiness. Nur das Filmgeschäft und die Politik sind wahrscheinlich schlimmer. Alle raspeln Süßholz und sind im Prinzip gehässig.
Rio hatte diese Gier und Gehässigkeit des Geschäfts nicht. Obwohl er zu mir einmal gesagt hat, dass er gern eine Million Platten verkaufen möchte. Ja, groß rauskommen und Erfolg haben, das wollte er auch.
Ich habe die Scherben erst Anfang der Achtziger entdeckt. Freunde haben mir eine Live-Kassette von ihnen gegeben. Trotz des furchtbar schlechten Klangs habe ich sie sehr viel auf Autofahrten gehört. Als Rio in den Siebzigern mit den Scherben auf Lastwagen bei Demos gespielt hat, da bin ich ja noch in der „ZDF-Hitparade“ aufgetreten, mit Schlaghosen und angeklebten Wimpern. Nun aber wollte ich weg vom Image des Schlagermädchens. Zu dieser Zeit habe ich zum ersten Mal die Scherben gehört. Ich hielt inne. Was ist das denn bitte für’ne Stimme? Was ist das für ein Mann?
Die Band und den Typen wollte ich kennenlernen. Ich sprach ihnen auf den Anrufbeantworter in der Landkommune in Fresenhagen, ich würde sie gern mal treffen. Kurz darauf bekam ich ein Fax: „Liebe Marianne, wir freuen uns auf Dich, die Scherben freuen sich, mit Dir zu arbeiten!“ Sind die verrückt? Ist ja der Wahnsinn! Es war tiefster Winter, als ich sie besuchte. Rio kam mir ganz zierlich vor, er war auch nicht besonders groß und hatte diese riesengroßen Augen. Irgendwie war er anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.
Er kannte mein ganzes Repertoire. Ich war total von den Socken. Rio sagte, dass das über die Fürsorgezöglinge und Trebegänger kam, mit denen sie zusammengelebt und -gearbeitet haben. Die hätten meine Musik rauf und runter gehört. Er mochte meine Musik.
Später, als er wieder in Berlin war, haben wir uns immer gegenseitig besucht. Wir sind viel ausgegangen, durch die Stadt gezogen, in Cafés, in Bars, in den Dschungel, die Paris-Bar. Das Schwarze Café war oft die letzte Station, weil es das letzte Lokal war, das noch geöffnet hatte. Im Dschungel ging es nicht darum sich zu unterhalten, die Musik war zu laut. Es ging darum zu sehen und gesehen zu werden. Alle waren gestylt, und vom Geländer der Balustrade konnte man die Szene überblicken: Wer kommt da wieder rein. Wie sieht der aus. Was hat der an.
Manchmal, wenn wir mal wieder durch die Nacht gezogen sind und alle schon’ne Menge Gläser geleert hatten, setzte er sich ans Klavier und spielte den Marlene-Dietrich-Song „Wenn ich mir was wünschen dürfte“. Wenn er das sang, mit seiner Stimme, die klang, als hätte er nicht nur ein Leben hinter sich, sondern zig Leben, dann war das der Wahnsinn. Diese Stimme berührt uns doch alle.
Sprache so zu benutzen, wie Rio es tat – das war einzigartig. Das sehe sicher nicht nur ich so. Es waren kämpferische und sehr einfühlsame Texte zugleich. Außerdem war Rio ein sehr sozialer Mensch, dem es wichtig war für andere Menschen da zu sein.
„Der Traum ist aus“ und „Land in Sicht“ sind meine Lieblingssongs. Wenn Rio in „Land in Sicht“ singt: „Morgenlicht weckt meine Seele auf“, dann bin ich erledigt, total überwältigt, immer wieder. So viel Emotion, die in der Stimme mitschwingt und alle erreicht.
Marianne Rosenberg, 61, ist Sängerin und Songwriterin. Sie lebt in Berlin
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