Wie ein Pfeil zitternd ins Schwarze trifft

Geschichte „Abhustungsbewegungen verstopfter Atmungsorgane“, so dachte Gottfried Benn von seinen Briefen. Was er dem Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze schrieb, ist dennoch ein spannendes Zeugnis der Jahre 1932 bis 1956

Der Quadratschädel mitten auf dem Sofa ist Gottfried Benn, links neben ihm sein Förderer Friedrich Wilhelm Oelze Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach

von Eberhard Geisler

Die Briefe Gottfried Benns an den Bremer Kaufmann und Gönner Friedrich Wilhelm Oelze waren bereits früher veröffentlicht worden, sind unlängst aber in einer hervorragend ausgestatteten, ausführlich kommentierten vierbändigen Ausgabe erschienen, die nun auch die Antwortschreiben Oelzes enthält. Der Leser erfährt zunächst viel über diese ungleiche und doch überaus fruchtbare Beziehung; viele private Details insbesondere aus dem Leben Benns.

Der Dichter und Arzt bedankt sich artig für die von dem großzügigen Partner erhaltenen Blumensträuße und Weinkisten, tauscht sich mit Oelze über Krankheiten, Urlaube und Reisen aus, berichtet von Vorträgen und Radiobeiträgen. Fast amüsiert nimmt er von den im Alter zunehmenden nationalen und internationalen Ehrungen, von den weltweit entstehenden Doktorarbeiten über seine Prosa und Lyrik Notiz.

Er lässt die bis in die späten Jahre reichende große Bedeutung der Erotik für sich durchblicken; deutet gelegentliche Seitensprünge an, und auch die geliebte Gattin Ilse, sein Stecken und Stab, wie er sagt, betrügt ihn ebenfalls. Er zögert, dem gestrengen Kaufmann in der Hansestadt Henry Millers Pornografie zu empfehlen, der dann auch eher abwehrend reagiert. Benns Ideal ist Anonymität, am liebsten will er die eigenen Spuren verwischen, um wieder in die „Jugendfluten“ tauchen und Fülle erfahren zu können. „… man muss immer wieder den Ast absägen auf dem man sitzt, nur dann wird man sich weniger langweilig, als man es an sich schon in hohem Maße ist“.

Das Pathos der Menschenferne

In einer Epoche, in welcher Weltanschauung großgeschrieben wird, ringt Benn um eine angemessene Weltanschauung, ist aber zugleich von der Überzeugung durchdrungen, dass ein bleibendes Werk erst erreicht werden kann, wenn er Weltanschauung hinter sich lässt. Am nachdrücklichsten zehrt er von Nietzsches Pathos der Distanz und Menschenferne; er kultiviert die eigene Isoliertheit, die Selbstbeschränkung und den genügsamen Blick auf einen Berliner Hinterhof mit Wäscheleinen.

Benns Ästhetik wird deutlich: In einer sinnentleerten, chaotischen Welt bleibt doch der unerfindliche Trieb zum künstlerischen Ausdruck fortbestehen; was dennoch erreicht werden kann, ist die „Transcendenz der schöpferischen Lust“.

Jedwede Geschichtsphilosophie will der als Militärarzt im Heer dienende Dichter verabschieden, wodurch er zum Gros der entweder national bewegten oder marxistischen Zeitgenossen quersteht. Er fällt interessante, teils scharfe Urteile über Kollegen wie beispielsweise Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke oder Hermann Hesse, der ihm, wie er sich ausdrückt, als harmloses glattes Gehirn gilt; zu Ernst Jünger hat er ein ebenso nahes wie distanziertes Verhältnis.

Nach anfänglicher Zustimmung zum Nationalsozialismus dokumentiert Gottfried Benn, der durch die Liebe zu den romanischen Völkern geprägt ist, sein zunehmendes Befremden dem Deutschtum und dessen Kultur gegenüber. Bereits 1937 – und das ist eine äußerst imponierende Passage – erteilt er eine entschiedene Absage an den Gedanken der Reinheit der Rasse: „Dies Volk ist zweiklassig … Nur wo andere Rassen es lösten und äderten, entwickelt es seinen in der Erbmasse vorhandenen Reichtum und Glanz.“

Die Einsicht drängt sich auf, dass die Briefe einen wichtigen Bestandteil von Benns Werk darstellen. Auch mit Paul Hindemith und Egmont Seyerlen hat der Dichter korrespondiert. In den Briefen realisiert sich, und das ist durch diese neue Ausgabe festzustellen, letztendlich sein Stilideal. Es ist äußerste Lakonie, die sprachlich gefasste Annäherung an das Verstummen, an den Telegrammstil.

Das Gedicht erscheint ihm im Lauf der Jahre als das Höchste – die Krone möglichen literarischen Schaffens –; seine weltanschaulich bemühten Essays treten demgegenüber in den Hintergrund. Mit tiefer Skepsis bedenkt er überhaupt alle Literatur: „Mein Gott, wie wenig tiefe Worte gibt es in der Welt, alles nur Zerrungen, eigentlich weiß ich nur von Goethe einige, von Laotse und von Christus.“ In diesem Sinn urteilt er über seine eigenen Briefe höchst abschätzig, indem er sie „eigentlich nur Abhustungsbewegungen verstopfter Atmungsorgane“ nennt. Bombast und bloße Rhetorik verneint er entschieden und erweist sich damit als in die zentralen Entwicklungen der modernen Weltliteratur eingebunden. Die Möglichkeit dichterischer Rede selbst wird im 20. Jahrhundert bekanntlich in Zweifel gezogen, so etwa auch bei Federico García Lorca, César Vallejo und Henri Michaux.

Sein Stilideal ist äußerste Lakonie, die sprachlich gefasste Annäherung an das Verstummen

Natürlich wird auch die zeitbedingte Grenze von Benns Auffassungen sichtbar. Keinerlei Verständnis hat er für Friedrich Hölderlin und Johann Sebastian Bach. Weder der eine noch der andere gilt ihm als großer Mann! Da zeigt sich eine doch erschütternde Blindheit Benns, der die denkerische Tragweite von Hölderlins Parataxe und seiner zerbrechenden Syntax nicht begreift.

Eine einzige dunkle Wolke

Es gibt für ihn eben keine Möglichkeit eines Göttlichen mehr in der Welt; eine einzige dunkle Wolke spannt sich zum Horizont. Allein Goethe und Nietzsche sollen als Leitsterne diese Finsternis durchbrechen. Dieses Schaffen trägt die Spuren der Zeitbedingtheit, vermag aber – und darauf kommt es heute an – seine zeitenthobene, einzigartige Vollendung hervortreten zu lassen, wie durch die in diesen Mitteilungen immer wieder zitierten Gedichte dem Leser vor Augen geführt wird.

Die Briefe des geschätzten Partners Oelze, der treu Benns Texte in Bremen für die Nachwelt archiviert, sind gelegentlich ebenfalls lesenswert; dieser Briefsteller zeigt sich überaus kultiviert und belesen. Oftmals muss man aber ein dem verehrten Dichter, der ihn unsterblich machen wird, bloß folgsames, ergebenes, mattes und dadurch wenig authentisches Echo auf dessen Auffassungen konstatieren, etwa über den schier unaufhaltsamen Verfall des Abendlands oder die Dekadenz der jungen Bundesrepublik.

Kurzum: Diese Bücher laden dazu ein, sich wieder und wieder von Benns Formulierungskunst, die wie ein Pfeil zitternd ins Schwarze trifft, überraschen zu lassen, von seinem Willen und Vermögen, illusionslos und „extra sec“ zu schreiben. Ein bedeutendes Stück deutscher Literatur des 20. Jahrhunderts.

Gottfried Benn – Friedrich Wilhelm Oelze: „Briefwechsel 1932–1956. Vier Bände. Hrsg. von Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof. Klett-Cotta/Wallstein, Stuttgart/Göttingen 2016, 199 Euro