: Ein Opfer der Ungeduld
Der Verfassungsentwurf im Irak steht unter einem schlechten Stern. Ob die Bevölkerung ihn morgen annimmt oder ablehnt – ein Bürgerkrieg wird dort immer wahrscheinlicher
Der Gedanke ist einfach und bestechend: Wenn die Iraker sich auf eine gemeinsame neue Verfassung einigen, wird im Zweistromland endlich das Politische über das Militärische siegen. Morgen sollen die Iraker nun über den Verfassungsentwurf abstimmen, der ihnen eine gemeinsame friedliche Zukunft bescheren soll. Die Zielvorstellung ist klar: Es gilt, die offenen Wunden des Landes zwischen Schiiten, Kurden und Sunniten zu heilen.
Doch anstatt den Aufständischen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird dieser Verfassungsentwurf die Spannungen zwischen den Volks- und Religionsgruppen verstärken und die Teilung des Landes beschleunigen. Der Verfassungsprozess hat das Land polarisiert: Auf der einen Seite Schiiten und Kurden, die den neuen Entwurf unterstützen, auf der anderen Sunniten, die ihn weitgehend ablehnen.
Daran wird auch ein Deal nach dem Motto „Retten, was zu Retten ist“ wenig ändern, auf den sich die irakischen Unterhändler diese Woche geeinigt haben. Danach soll das Parlament später einige Modifizierungen im Sinne der Sunniten erwägen können. Ohne amerikanische Garantien bleibt aber fraglich, wie ein schiitisch-kurdisch dominiertes Parlament den Sunniten entgegenkommen wird.
Vor allem die Eile Washingtons mit dem Verfassungsprozess hat zu der heutigen Misere beigetragen. Aus Mangel an anderen Indikatoren für politischen Fortschritt, begannen die USA, eingehaltene Ultimaten als Erfolg zu verkaufen. Selbst der für die US-Truppen im Irak zuständige General George Casey hatte vor kurzem noch davor gewarnt, dass sich die Lage verschärfen wird, wenn die Verfassung nicht im Konsens zustande kommt. Dann würden, so der General, die US-Hoffnungen zunichte gemacht, einen Teil der amerikanischen Truppen im Frühjahr abziehen zu können.
Die Iraker hatten in ihrem 56-köpfigen Verfassungskomitee nur drei Monate Zeit, die Grundlagen des Staates auszuarbeiten. Erstes Opfer der Ungeduld war der nationale Konsens. Die sunnitischen Verfassungsväter in spe fanden sich bald einer Situation gegenüber, in der kontroverse Passagen in einem informellen schiitisch-kurdischen Gremium ausgearbeitet wurden. Die 15 Sunniten des Komitees weigerten sich, deren Ergebnisse zu unterschreiben, weil sie eine Teilung des Landes fürchteten und dass die Sunniten im staubigen Zentrum des Landes ohne Ressourcen zurückgelassen würden.
Das zweite Opfer ist der Text des Entwurfs selbst. Zahlreiche vage Passagen überlassen kontroverse Fragen einem künftigen Gesetzgeber – einem von einer schiitischen Mehrheit dominierten Parlament. Den größten Zündstoff bietet dabei die Frage der föderalen Struktur. Nach anfänglichem Zögern hatten sich die sunnitischen Delegierten doch mit einem Föderalismus angefreundet, der die kurdischen Regionen im Norden innerhalb der irakischen Grenzen beinhaltet. Dann führten die schiitischen Delegierten den Passus ein, der es auch anderen Regionen ermöglicht, sich zu einem Bundesland zusammenzuschließen. Wie viele der 18 Provinzen sich zu einer Einheit zusammentun können, wurde nicht festgelegt. Damit wurde die Möglichkeit eines schiitischen Superbundeslandes mit den neun Provinzen eröffnet, in denen die Schiiten die Mehrheit stellen. Die Entscheidung, welche Provinzen sich zusammenschließen werden, bleibt dabei dem zukünftigen Parlament überlassen, das mit Sicherheit eine schiitische Mehrheit besitzen wird.
Die Bundesländer werden laut Verfassungsentwurf eine hohe Autonomie besitzen. Nur Verteidigung, Außenpolitik, Steuern und Zoll werden von der Zentralregierung in Bagdad verwaltet, innere Sicherheit und Polizei bleibt Ländersache. Was in den USA oder Deutschland sinnvoll sein mag, stattet im Irak die regionalen, nach Volks- und Religionsgruppen organisierten Milizen mit neuer Macht aus.
Der Irak verfügt über die zweitgrößten Ölvorkommen der Welt, etwa 12 Prozent der bekannten Reserven. Die tatsächliche Menge dürfte noch höher sein. Die meisten Ölfelder liegen im kurdischen Norden und im schiitischen Süden des Landes. In Artikel 110 der Verfassung heißt es dazu: „Die Zentralregierung ist für die Verwaltung der Felder verantwortlich, an denen gegenwärtig gefördert wird. Sie muss dabei mit den Provinzen und Regionen zusammenarbeiten.“ Ein Passus, der offen lässt, wer neu entdeckte oder bisher nicht ausgebeutete Ölvorkommen verwalten soll. Kurdische Unterhändler haben bereits verkündet, dass laut ihrer Interpretation die Ölfelder, die in der kurdischen Region bisher noch nicht ausgebeutet wurden, klar als kurdisches Eigentum angesehen werden – ein sunnitisches Albtraumszenario.
Der Verfassungsprozess hat den Irak weiter auseinander dividiert, in dem jeder auf Basis der Identität seiner Religions- oder Volksgruppen ein Maximum herauszuschlagen suchte. Die Schiiten und Kurden haben sich weitgehend durchgesetzt, während die Sunniten in ihrer Verweigerungshaltung steckengeblieben sind.
Bereits am 28. August, als der Verfassungsentwurf dem Parlament vorgelegt worden war, begannen die Sunniten mit einer Nein-Kampagne. Auch wenn nun bei den Zugeständnissen der letzten Tage einige Sunniten ihre Meinung geändert haben – die meisten von ihnen sind misstrauisch geblieben. Sie bilden in vier irakischen Provinzen die Mehrheit. Stimmte in drei Provinzen jeweils eine Zweidrittelmehrheit gegen die Verfassung, käme der Entwurf zu Fall.
So kann das Verfassungsreferendum kaum gut enden. Entweder die Kurden und Schiiten drücken die Verfassung mit ihrer Mehrheit durch und tragen so zur weiteren Teilung der politischen Geografie des Landes bei, oder aber die Sunniten blockieren den Entwurf und werden so erneut zum Buhmann der Mehrheit werden. Am Ende der Auszählung wird das Land dann entweder keine Verfassung besitzen oder eine, die von den Sunniten nicht als die ihre empfunden wird. Und Letztere werden sich dann voraussichtlich ganz aus der Politik abmelden und ihr Heil im Militärischen suchen.
Bereits in den letzten Monaten haben sich auch hier die Fronten verschoben. Der Konflikt verläuft jetzt innerhalb der irakischen Bevölkerung. Auf der einen Seite kämpft die sunnitische Guerilla, auf der anderen steht die irakische Armee und Nationalgarde aus Kurden und Schiiten. Und immer häufiger zielen die Anschläge nicht auf US-Soldaten, Regierungseinrichtungen oder die Polizei ab, sondern einfach nur auf schiitische Zivilisten.
Still und leise findet bereits eine „ethnische Säuberung“ statt. Sunniten ziehen aus vorwiegend schiitischen Gebieten weg und umgekehrt. Kurden trauen sich nicht mehr in arabische Gebiete. So gefährdet der Verfassungsentwurf, trotz seiner positiven Intention, den Frieden im Irak. Er droht einen Bürgerkrieg auszulösen, der die ganze Region mitreißen könnte.
KARIM EL GHAWARY