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Drängeln in Rio

VERKEHR Für Fußball-WM und Olympische Spiele investierte die Stadt Milliarden in Verkehrsprojekte. Kritiker monieren eine Elitisierung des öffentlichen Nahverkehrs

Aus Rio de Janeiro Andreas Behn

90 Minuten braucht Carolina Menezes von ihrer Wohnung bis ins Stadtzentrum, wo sie als Arzthelferin in einem der Hochhaustürme arbeitet. „Es sind zwei Busse, der letzte ist meist gerammelt voll, kein schöner Tagesbeginn“, sagt die 48-Jährige. Ihre Schwester Valéria muss noch weiter fahren, bis in die schicke Südzone von Rio de Janeiro, wo sie nahe der Strandpromenade von Ipanema als Hausangestellte arbeitet. Obwohl sie bis dorthin eine der zwei U-Bahn-Linien benutzen kann, ist sie wegen des Zubringerbusses oft ganze zwei Stunden unterwegs, auf dem Hin- und auf dem Rückweg. Einen Sitzplatz findet sie nie. „Andere steigen in die entgegengesetzte Richtung ein, um an der Endhaltestelle einen Platz zu ergattern. Aber dann dauert der Weg nochmal 15 Minuten länger.“

Die mühsamen Transportwege sind ein beliebtes Thema in der zweitgrößten Stadt Brasiliens. Nirgendwo im Land fließt der Verkehr so langsam wie in Rio de Janeiro: Nach offiziellen Angaben braucht ein knappes Drittel der arbeitenden Bevölkerung über eine Stunde, um zum Job zu gelangen.

Trotzdem Busspuren geschaffen wurden und Schnellbusse fahren, ist der Individualverkehr weiter auf dem Vormarsch. Und der ist der Hauptgrund für die Verstopfung. Bürgermeister Eduardo Paes versprach, dass die sportlichen Großevents dieser Dekade eine gute Gelegenheit seien, die Lage zu verbessern. An die 5 Milliarden Euro wurden anlässlich von Fußball-WM 2014 und Olympischen Spielen, die am 5. August beginnen, in Verkehrsprojekte investiert: eine neue U-Bahn-Linie, vier Schnellbus-Trassen, zwei Straßenbahnlinien im Stadtzentrum und mehrere neue Schnellstraßen. Doch genutzt hat der Geldsegen, der dazu beitrug, dass die Stadt vergangenen Monat den finanziellen Notstand ausrufen musste, wenig.

Dass die Bauten am Ende meist doppelt so teuer waren wie geplant und viele zudem nicht rechtzeitig fertig wurden, sind die kleineren Probleme. Außer vielleicht bei der U-Bahn-Linie 4, die den Olympiastadtteil Barra mit den Zentrum verbindet. Sie soll erst am 1. August eröffnet werden. Dagegen wurden schon mehrere Klagen eingereicht, weil sie ohne eine der sonst üblichen Testphasen direkt in Betrieb gehen wird – und die Olympiabesucher also als Versuchskaninchen dienen.

Die Olympia-­Besucher werden zu ­Versuchskaninchen einer neuen U-Bahn

Juciano Martins Rodrigues vom Observatório das Metrópoles, einer Forschungsabteilung der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, zieht eine verheerende Bilanz: Die fertigen Schnellbuslinien sind schon jetzt völlig überfüllt und verursachten zahlreiche Unfälle – angesichts der Größe der Stadt war es falsch, auf Busse statt auf U-Bahnen zu setzen.

„Der Verkehr auf Rädern, insbesondere der individuelle, hat in der gesamten Planung Priorität“, kritisiert der Professor für Stadtplanung. Dagegen fehlten Investitionen in Fahrrad- und Fußwege oder auch in den Schiffsverkehr. Geradezu dramatisch sei, dass der Ausbau der Verkehrswege sich nicht an der Nachfrage orientiere, sondern an den Bedürfnissen der zwei olympischen Wochen und den Wünschen der Bewohner reicher Viertel.

Martins Rodrigues, der auch beim olympiakritischen Comitê Popular aktiv ist, spricht von einer Elitisierung des öffentlichen Nahverkehrs: Zum einen werden die ärmeren Stadtviertel viel weniger angefahren, obwohl dort die Busse am vollsten sind. Zum anderen wurden in den letzten Jahren zahlreiche Linien eingestellt, die Armenviertel direkt mit der reichen Strandzone verbanden. „Anstatt die notwendige Integration der verschiedenen Stadtsegmente voranzutreiben, werden die Armen einmal mehr ausgeschlossen“, beklagt Martins Rodrigues.

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