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Archiv-Artikel

„Sie brauchen immer noch den guten Zaren“

WIDERSTAND Die Journalistin und Schriftstellerin Alissa Ganijewa über Putin und die russische Opposition

Alissa Ganijewa

■ geboren 1985 in Moskau, ist Schriftstellerin und Feuilletonredakteurin der Moskauer Tageszeitung Nesawissimaja Gaseta. Auf Deutsch kann man im Band „Das schönste Proletariat der Welt – Junge Erzähler aus Russland“ mehr von ihr lesen.

INTERVIEW KLAUS-HELGE DONATH

sonntaz: Frau Ganijewa, vor einem Jahr, als die Proteste gegen Putin anfingen, waren Sie skeptisch. Nun ist ein Jahr vergangen.

Alisa Ganijewa: Der Aufbruch hat positiv gewirkt, egal wie viel daran rumgemäkelt wird. Das Bewusstsein hat sich gewandelt, natürlich nicht bei allen. Im Frühjahr war ich mit Schriftstellerkollegen zu Lesungen in der Provinz im Norden. Wir traten vor „ganz einfachen Leuten“ auf, die alle gleich reagierten: Was bei euch satten Moskauern passiert, geht uns nichts an!

Woran liegt das?

Sie vergleichen die Putin-Zeit mit dem Umbruch in den ökonomisch schwierigen 1990er Jahren. Seit Putin an der Macht ist, kommt der Lohn wieder pünktlich. Er ist zwar lächerlich niedrig und reicht gerade mal für die Strom- und Gasrechnung, das ändert aber nichts an ihrer Zufriedenheit. Eigentlich haben sie nichts, sind aber trotzdem dankbar. Das muss mit ihrer Mentalität zusammenhängen – die sträubt sich gegen Veränderungen. Sie wollten auch nichts davon hören, dass nicht Putin, sondern der hohe Ölpreis den Lohn sicherte. Sie brauchen immer noch den guten Zaren, weil sich ihre Welt aus sehr engen, persönlichen Vorstellungen zusammensetzt.

Was ist an politischen Änderungen seither geschehen?

Von den Forderungen der Demonstranten ist keine einzige eingelöst worden. Buchstäblich keine. Aber es tat schon gut zu sehen, wie die Mächtigen plötzlich Angst bekamen, irritiert waren.

Ist der Kreml mit der Wiedereinführung der Gouverneurswahlen und der Zulassung neuer Parteien den Demonstranten nicht entgegengekommen?

Bei den Gouverneuren filtert der Kreml vorher aus und Parteien wurden so viele zugelassen, dass es die Wähler eher verwirrt. Zunächst sah es so aus, als würde der Kreml ein wenig einlenken. Im Dezember war Putin noch schockiert. Danach reagierte er hysterisch und weinte sogar. Als er schließlich zu sich kam, brüllte er los, wurde aggressiv. Er hätte die Demonstranten – wie die Tschetschenen im Krieg – am liebsten noch „im Scheißhaus“ erledigt. Für jemanden, der isoliert lebt, ist das eine ganz menschliche Reaktion. Plötzlich öffnet jemand unerwartet ein Fenster, er erstarrt zunächst, legt dann aber richtig los …

mit repressiven Gesetzen und Repressalien gegen die Opposition.

Die Repressalien schüchtern die Gegner nicht ein, sie heizen die Proteste eher noch an: Jetzt erst recht! Früher griffen Tyrannen jeden Zehnten aus der Masse heraus und erschossen ihn, jetzt pickt man ein paar wahllos heraus und steckt sie ins Gefängnis. Das ist tragisch, aber es ändert nichts an der Protestbereitschaft. Früher hielten es alle für unheimlich riskant, auf die Straße zu gehen, und hatten Angst. Dann machten sie eine ungeheure Entdeckung: Es ist lustig und macht auch noch Spaß. Die meisten riskieren ja auch nichts, weil sie nicht im Staatsdienst sind. Ich war mir sicher, dass mir nichts passieren konnte. Insgesamt stellt dies einen unerhörten Bewusstseinssprung dar. Der Stein ist ins Rollen gekommen.

Ist die Antikorruptionskampagne, die Putin zurzeit gegen einige Spitzenbürokraten lanciert, eine Folge der Proteste?

Klar will Putin damit ablenken und die Lage entschärfen. Stünde er nicht unter Druck, hätte er das sicher nicht gemacht. Eigentlich müsste alles ausgemistet werden. Aber die Kampagne wird natürlich nicht bis zum Ende durchgehalten, weil sich das System dann selbst verschlingen würde. Alle, die da oben sitzen, wissen doch: Auch mein Nebenmann ist ein Dieb und Räuber. Zurzeit werden nur die Kriminellen ausgesondert, die auf Dauer nicht tragbar sind.

Hat die Opposition noch etwas erreichen können?

Inwieweit sie auf das politische Geschehen Einfluss hat, ist schwer zu sagen. Ihr fehlt die Rückbindung an größere soziale Gruppen. Die meisten leben für sich, ihre politische Orientierung ist zu eng gefasst. Nur der Protest gegen die Wahlfälschung verband sie. Untereinander sind sie zerstritten und ereifern sich über Lappalien. Alle diskutieren im Moment allerdings, ob man Putin gleich entfernen muss oder lieber erst den Boden für Reformen bereitet. Ein Geschwür gehört eigentlich komplett und radikal beseitigt, andererseits gibt es keinen anderen Kandidaten und ein Umsturz würde Russland mindestens ökonomisch um Jahre zurückwerfen. Vor diesem Kaderproblem steht die Gesellschaft grundsätzlich: Wo finden sich noch Leute, die sich nicht ans Stehlen gewöhnt haben?

Was würde passieren, wenn Putin vorzeitig ginge?

Es könnte alles einstürzen und am Ende ein ähnlicher Typ wie Putin das Ruder übernehmen. Viele Oppositionelle haben keine Geduld mehr, wissen aber auch nicht, wen sie an Putins statt aufstellen sollten. Die Opposition ist darüber heillos zerstritten.

Gibt es neben Alexei Nawalny und Sergei Udalzow keine jüngeren Köpfe in der Oppositionsbewegung?

Putin und die Opposition

■ Der Termin: Russlands Präsident Wladimir Putin hält am Donnerstag, den 20. 12., erstmals seit 2008 wieder eine große Pressekonferenz für nationale und internationale Medien. Für Samstag, den 15. 12., ruft die Opposition zu landesweiten Protesten gegen Putin auf.

■ Der Machterhalt: Seit dem Beginn von Putins dritter Präsidentschaft im Mai 2012 gab es immer wieder heftige Proteste. Mit seinem Wiedereinzug in den Kreml hat Putin trotz internationaler Kritik mit mehreren Gesetzen und Gesetzesänderungen den Spielraum der Opposition erheblich eingeschränkt.

Es gibt sie nicht oder sie sind noch nicht in Erscheinung getreten. Politiker werden bei uns vom Fernsehen gemacht, da das Internet in der Provinz noch keine Rolle spielt.

Welche Rolle fällt den Liberalen in der Opposition zu?

Ich bewege mich meistens unter Schriftstellern. Die Intelligenz war in Russland fast immer in der Opposition. Für die Jugend ist der Linke Sergei Udalzow ein Vorbild, sie tendiert ohnehin wieder zu sozialistischen und kommunistischen Ideen. Die Liberalen zerfallen in zwei Gruppen: Die echten, die wie Voltaire für die Meinung anderer ihr Leben opfern würden. Das sind sehr wenige. Die anderen sind die totalitären Liberalen, die dem Gegner Existenzberechtigung absprechen. Bis zur allgemeinen Akzeptanz abweichender Haltungen liegt wohl noch ein längerer zivilisatorischer Reifeprozess vor uns.

Denkt die Jugend wie vor einem Jahr immer noch übers Emigrieren nach?

Viele denken nicht nur nach, sie gehen. Nicht unbedingt nach Europa, Goa ist beliebt, weil es dort billiger als in Moskau und Europa ist. Gerade die Besseren und Verantwortungsbewussteren hauen ab, die Gleichgültigen bleiben.

Kommt der Systemwechsel erst in zehn Jahren, wenn eine neue Generation die politische Bühne betritt?

Tja, der Gedanke stimmt depressiv. Aber wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Der stete Tropfen höhlt den Stein – und außerdem sind Bevormundung und Unterdrückung nicht mehr so stark wie in der Sowjetunion.